Meine Seele weiß von dir
gemähtem Gras an einem Sommernachmittag, Glockengeläut an einem Sonntagmorgen, der Geschmack von gebrannten Mandeln auf dem Weihnachtsmarkt - all dies sind Signale für unser Gehirn, die eine Flut von Erinnerungen auslösen können, die wir in unserem autobiografischen Gedächtnis abspeichern wie Daten auf einer Festplatte. Die Menschen, Orte, Dinge, Ereignisse und Gefühle, die in unsere Lebensgeschichte eingehen, sind allesamt irgendwo da drinnen“, sie tippt mit einem Zeigefinger nacheinander auf verschiedene Stellen ihres Schädeldaches. „Manche ganz vorn, andere weit hinten. Und wenn man das richtige Stichwort findet, kommt jede Erinnerungsdatei wieder zum Vorschein.“ Sie beugt sich vor und tätschelt tröstend mein Knie. „Auch die Ihre.“
Mir schießen vor Dankbarkeit die Tränen in die Augen. Aber ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen.
Doktor Yvonne nimmt sich viel Zeit für unser Gespräch. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ich einen sehr starken Druck auf mein Erinnerungsvermögen ausübe, mich zu intensiv beobachte – belauere , ist das Wort, das sie benutzt -, wodurch mir meine Gedächtnisschwächen verstärkt auffallen und ich mich selbst blockiere.
Sie kann das zwar nachvollziehen, versichert sie, vereinbart aber mit mir, dass ich es unterlasse. Sie sieht den Genesungsprozess ähnlich wie Doktor Romberg. „Suchen Sie Orte auf, an denen Sie sich vor ihrer Amnesie oft aufhielten. Was haben Sie da gemacht und mit wem? Schauen Sie sich Fotos an, unterhalten Sie sich, stellen Sie aber nicht zu viele Fragen. Suggerieren Sie sich nichts und lassen Sie sich nichts suggerieren. Denn sehen Sie, Sina-Mareen, Erinnerungen, die falsch sind, fühlen sich genau so an wie echte.“
„Woran erkennt man dann den Unterschied?“
Bevor sie antwortet, denkt sie einige Zeit nach. „Im Grunde ist es wie in einem Kriminalfall“, antwortet sie schließlich und hievt sich aus dem Sessel als Zeichen, dass unsere Sitzung beendet ist. „Die echten Erinnerungen hinterlassen Zeugen. Man findet Indizien und Spuren, mit denen sie beweisbar sind. Und man selbst ist der Ermittler.“
Ehrlich gesagt bin ich enttäuscht. Ich habe zumindest erwartet, dass sie mir Methoden vermittelt, mit denen ich mein Gedächtnis trainieren kann. Oder eine dieser Hypnosebehandlungen, von denen man ständig hört. Vielleicht auch ein Rezept für irgendein Medikament. Eine Art Wundermittel, auf das ich heimlich hoffte.
Für mein Empfinden ist Doktor Vogels - Doktor Yvonnes - Behandlungsmethode gar keine und ich sehe nicht, wie sie mir helfen soll.
Auf dem Heimweg wechseln Lisa und ich kein Wort. Ich nicht, weil ich über das eben Geschehene nachdenke, und Lisa nicht, weil ... keinen Schimmer, warum!
Es interessiert mich, ob ich früher auch so wenig gesprochen habe, vor dem Ertrinken meine ich. Ich wäge ab, ob das eine der Fragen ist, die ich laut Doktor Yvonne nicht stellen sollte.
Als wir die halbe Strecke hinter uns haben und auf die lange, von Bäumen gesäumte Landstraße biegen, geschieht etwas Seltsames: Ein Motorrad überholt uns.
Es ist eine alte Maschine, so eine, wie Marlon Brando sie in The Wild One fährt. So eine wie in unserer Garage.
Der Fahrer trägt einen mattschwarzen Helm, Sonnenbrille, Jeans und Lederjacke. Genau wie die meisten anderen Motorradfahrer und wie seine Sozia, deren langes Haar hinter ihr weht wie ein dunkles Tuch. Sie hat beide Arme um die Körpermitte des Bikers geschlungen, umarmt ihn gleichsam und lehnt sich so eng an ihn, als wären sie miteinander verschmolzen.
Es dauert nur wenige dröhnende Sekunden, dann sind sie an uns vorbeigezogen. Ich spüre den Schlag meines Herzens in jeder Zelle meines Körpers.
„Leander!“, rufe ich und schaue dem Paar hinterher. „Hast du gesehen? Das war Leander!“
„Ich hab nicht hingeschaut.“
„Aber ...“
„Nix aber“, fällt Lisa mir ins Wort. Zügig fährt sie weiter. „Ich schau doch nicht jedem Motorrad nach!“
Ich blinzele einige Male, als wollte ich ein unerwünschtes Traumbild, eine Halluzination vertreiben.
„Jetzt fahren wir in die Jagdstuben und trinken einen Cappuccino“, bestimmt Lisa. „Und du erzählst mir in aller Ruhe, was deine Therapeutin gesagt hat, okay?“
„Ja. In Ordnung.“
Sie biegt auf eine unplanierte Straße ab. Kurz darauf hält sie vor einem Landgasthof mit Pension. Fügsam folge ich ihr auf die Sonnenterrasse mit den einladend gedeckten Tischen.
Der Ober trägt einen Pferdeschwanz und
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