Meine Seele weiß von dir
metallener Schlüsselring mit zwei Schlüsseln.
Die Schlüssel erscheinen mir überdeutlich, als wäre ein Spot auf sie gerichtet. Und jetzt geschieht etwas Merkwürdiges, etwas, das mir Herzrasen verursacht: Ich erinnere mich, dass es die Schlüssel zu meinem Schreibtisch sind!
Ich rate es nicht, ich ahne es nicht, sondern ich erinnere mich ganz genau, dass der längere Schlüssel für die Schranktür ist und der kürzere zu dem Safe gehört, der in meinem Schreibtisch eingelassen ist.
In ihm bewahre ich manchmal besonders kostbare Materialien für die Schmuckherstellung oder Schmuckstücke auf, obwohl das Atelier sowohl gegen Einbruch gesicherte Fenster als auch eine Sicherheitstür hat.
Leander hatte die Schlüssel also die ganze Zeit bei sich, wohl um vor mir zu verbergen, was ich einst verborgen haben muss. Schließlich sollte ich mich ja von selbst an alles erinnern und die „schlimmen“ Sachen, über die ich mich noch mehr aufregen könnte, die hat er von mir ferngehalten: die angebliche Abtreibung, unsere Trennung und die bevorstehende Scheidung.
Bis zu dem Augenblick, wo die Geheimniskrämerei nicht länger standhielt und er Farbe bekennen musste. Bis heute.
Wovor wollte er mich schützen?
Ich nehme die Schlüssel, haste in mein Atelier und öffne mit fliegenden Fingern meinen Schreibtisch.
Darin finde ich neben Bankauszügen, Versicherungsunterlagen und Geschäftspapieren eine schlichte Kunstmappe. Als ich sie öffne, steigt mir heiß das Blut ins Gesicht.
In der Mappe sind mehrere Kohlezeichnungen. Akte von einer Frau ohne Gesicht. Augen und Nasen fehlen, es gibt keine Konturen, lediglich eine nebelhafte Fläche, ähnlich einem blinden Spiegel, und eine Andeutung voller Lippen - dennoch ist es unverkennbar: Die Frau bin ich.
Oder nein, es ist Sina-Mareen. Das erkennt man auch an den Haaren, die als Einziges in Farbe dargestellt sind. Üppig und von einem intensiven B lond.
Sie sitzt auf einem Bett, wirkt beinahe unnahbar, und hat dem Betrachter den nackten Rücken zugewandt. Auf einer anderen Zeichnung rekelt sie sich zwischen Kissen, die angedeuteten Lippen zu einem melancholischen Lächeln verzogen, und bedeckt ihre Brüste mit den Händen.
Auch auf dem letzten Bild ist nur der Ausschnitt des Bettes dargestellt. Dennoch erkenne ich es hier, weil diesmal ein Teil des gedrechselten Pfostens angedeutet ist. Es steht nebenan in der Gästemansarde über der Garage.
Sina-Mareen liegt entspannt und mit leicht geöffnetem Mund da. Ein Schatten, vielleicht von einer Wolke, fällt durch ein Fenster herein und auf das Laken. Er berührt ihre bloßen Schulterblätter und durch die leicht geschwungene Form des Schattenbildes sieht es aus, als hätte Sina-Mareen Engelsflügel. Ein Detail, das der Künstler besonders hervorgehoben hat.
Es sind sehr, sehr sinnliche Bilder. Schlicht, detailgetreu und kein bisschen verspielt. Ich finde sie aufwühlend. Dabei sind die Konturen leicht verwischt, wodurch sie wie Traumsequenzen wirken. Sämtliche Zeichnungen weisen rechts unten die Initialen des Künstlers auf: H. H.
Mir wird schlecht, als mir die Bedeutung dieser Bilder klar wird. Es gab einen anderen Mann in Sina-Mareens Leben. Vielleicht gibt es ihn noch.
Einen Geliebten.
Sina-Mareen & H. H.
Womöglich halte ich hier den Scheidungsgrund in Händen.
Das Läuten des Telefons holt mich aus meinen Gedanken. In der Hoffnung, dass es Leander ist, reiße ich den Hörer an mich. „Hohwacht.“ Meine Stimme bebt vor Nervosität.
Als Antwort erhalte ich nur wieder die gleichen stoßweisen Atemzüge wie schon einmal. Das war der Tag, an dem ich Heiko beim Laufen begegnet bin. Ich schließe die Lider und versuche mir eine Person, oder wenigstens ein Gesicht zu den Atemzügen vorzustellen. Was mir selbstverständlich nicht gelingt.
„Wer ist da?“ Ich erwarte nicht wirklich eine Antwort. Doch plötzlich kriecht eine rauchige Stimme durch die Leitung, und obwohl es nur zwei Worte sind, überzieht ihr Klang meinen Körper mit einem Schauer.
„Hallo, Engel.“
Sofort bringe ich diesen Kosenamen mit dem Kohlebild von Sina-Mareen in Verbindung. Das, auf dem sie schläft und auf dem ein Wolkenschatten dem Betrachter vorgaukelt, sie hätte Engelsflügel.
„Wer bist du?“, frage ich betont sachlich.
Ein Lachen, tief und kehlig.
Ich lege die Bilder, die ich noch immer mit einer Hand umklammert halte, auf den Schreibtisch. Dabei erhasche ich einen Blick auf das Display, das eine Handynummer anzeigt.
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