Meine Seele weiß von dir
ins Fleisch. Es hinterließ nicht weniger deutliche Spuren.
Obwohl ich vorher nur wenige Male in Doktor Yvonnes Praxis gewesen war, vertraute ich auf die hohe Meinung, die Leander von ihr sowohl als Mensch als auch als Therapeutin hatte.
Es passte nicht zusammen, dass ich, obwohl ich ihn verdammte und ihm wehtun wollte, mich noch immer auf sein Urteil verließ. Aber das tat ich. Am vierten März saß ich Doktor Yvonne zum ersten Mal als Patientin gegenüber.
Erst nachdem sie mir wiederholt versichert hatte, dass Leander ganz bestimmt keiner ihrer Patienten sei und sie selbstverständlich ihm gegenüber ihre Schweigepflicht nicht brechen würde, entspannte ich mich. Ein wenig.
Ich hatte das Buch von Ava Reger, Von froher Erwartung jäh ins Nichts, und mein Trauergedicht dabei.
Ich zeigte ihr beides.
Doktor Yvonne überflog den Einband und sagte, dass sie von dem Buch gehörte habe. Es stehe auf der Liste derjenigen Bücher, die sie demnächst zu lesen gedenke.
Danach schlug sie mein Notizbuch auf. Sie spielte selbstvergessen mit dem silbergrauen Lesebändchen, während sie Fehlgeboren las. Sie tat es langsam und bedächtig.
„Das gefällt mir“, sagte sie schließlich. „Es spricht mich wirklich an.“ Sie blätterte in dem Büchlein, las hier und da etwas, bevor sie es schloss. Mit einem kaum hörbaren Geräusch griff der Magnetverschluss. Sie legte es auf ein Tischchen neben sich und bat mich frei zu sprechen.
„Worüber?“
„Darüber, was Ihnen durch den Kopf geht. Oder Ihr Herz. Ihr Seelenleben.“
Sie lehnte sich entspannt zurück und nickte mir zu, wie eine mütterliche Freundin vielleicht. Oder eine weise, sehr einfühlsame Frau aus vergangenen Zeiten, der nichts Menschliches fremd war.
Ehe ich mich mit jemandem unterhalte, anfreunde oder ihm sogar vertrauen soll, muss die Chemie zwischen uns hundertprozentig stimmen. Bei ihr und mir war es so. Also erzählte ich.
Von einem Wunschkind.
Einer Schwangerschaft.
Glück, Erwartung und Vorfreude.
Von körperlichen Veränderungen.
Werdenden Müttern.
Und Vätern.
Von Angst.
Verlust und Tod.
Schwärze.
Von einer Lüge.
Doktor Yvonne unterbrach mich kein einziges Mal. Sie beschränkte sich aufs Zuhören, machte sich Notizen und gab manchmal ein besänftigendes Geräusch von sich, wenn ich sehr aufgewühlt war. Ein tiefes, melodisches Summen, etwa so, als wenn man ein verstörtes Kind beruhigen will.
Leander hatte mir einmal anvertraut, dass sie so lange nichts zu ihren Patienten sagt, bis sie einen weiterführenden Hinweis, eine Antwort geben kann. Er nannte es freischwebende Aufmerksamkeit, ein Begriff, der mir sehr gut gefiel.
„Viele ihrer Patienten können dieses nichtaktive Verhalten schwer nachvollziehen. Aber durch die Informationen, die sie preisgeben, ergibt sich mit der Zeit eine feine Spur, ein sinnvoller Zusammenhang, den Doktor Yvonne erkennt und dem sie zusammen mit dem Patienten nachgehen kann, wenn sie den Zeitpunkt für gekommen hält.“
Das leuchtete mir durchaus ein. Damals wie heute.
Ende März suchte ich Doktor Yvonne ein weiteres Mal auf. Bei diesem Termin redete ich ausschließlich über meinen heftigen Streit, den ich mit Ute gehabt hatte. Über das Zerbrechen unserer Freundschaft.
„Auf derart ichbezogene Freundinnen kann ich verzichten. Liebend gerne! Ich meine, interessiert sie eigentlich, was außerhalb ihrer Welt passiert? Macht sie sich Gedanken darüber, wie es in anderen aussieht? Ob sie Menschen durch ihr Verhalten vor den Kopf stößt und womöglich verletzt? Nein! Sie lebt wie in einer Blase, durch die nichts hinausdringt. Und nichts, aber auch gar nichts hinein!“ Aufgewühlt ballte ich die Fäuste. „Und sie will es auch nicht anders. Oder? Warum sonst hätte sie Geheimnisse vor ihrer besten Freundin?“
„Ich finde sehr aufschlussreich, was Sie sagen“, warf Doktor Yvonne für mich überraschend ein, und sie fragte: „Was glauben Sie?“
„Ich ... ich weiß es nicht .“
Doktor Yvonne machte sich Notizen.
Mitte April.
Es war mein dritter Besuch in der Vogel-Villa.
Während der ganzen Zeit hörte Doktor Yvonne nur zu und wartete wohl, dass ich endlich darüber sprach, was ich gedacht und empfunden hatte, als ich Leander die Lüge über die Abtreibung erzählt hatte.
Ich tat es nicht.
Ich schwieg auch über Rick, meine Chimäre und die Scheinwelt, die ich mir aufgebaut hatte, in die ich flüchtete und in der ich existierte wie in einer … Blase.
Erst Ende April, nach der
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