Meine Seele weiß von dir
Unterlippe begann zu zittern, dennoch schob ich trotzig mein Kinn vor und rettete mich in Phrasen: „Alles geht seinen Weg. Und die Welt dreht sich weiter.“
„Tatsächlich?“ Ihr Blick durchdrang mich wie ein Laserstrahl. „Ihre auch, Frau Hohwacht? Dreht Ihre Welt sich weiter?“
„Ich habe alles im Griff“, behauptete ich störrisch. „Wirklich!“
„Das glaube ich nicht.“ Sie fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. „Es gibt vier Phasen in der Trauerbewältigung. Das Nicht-wahr-haben-wollen haben Sie hinter sich gelassen. Danach durchlebt man die Zeit des Zorns – irgendjemand muss schuld sein! -, gefolgt von Depression. Und schließlich, ganz am Schluss, kommt das Annehmen. Man akzeptiert das Unabänderliche. Notgedrungen.“
„Ja doch! Das ist mir bekannt !“
„Diese Phasen können sich überschneiden.“ Ihre Worte waren drängend und aufrüttelnd. „Frau Hohwacht, Sie sind zwischen Phase zwei und drei stecken geblieben. Scheinbar i n Hass und wütendem Kummer. Und ich befürchte, ohne Hilfe kommen Sie da nicht wieder raus.“
Ich schlug die Hände vor das Gesicht.
„Kennen Sie einen Therapeuten, der Sie begleiten kann?“
Mir fiel nur ein Name ein. Ich nickte und murmelte ihn undeutlich.
„Wer?“
„Doktor Yvonne“. Ich nahm die Hände weg. „Doktor Yvonne Vogel.“
Noch am selben Nachmittag vereinbarte ich einen Termin mit ihr.
*
Die Kerzen zwischen Leander und mir sind ein gutes Stück heruntergebrannt. Leander, der die ganze Zeit unbewegt gelauscht hatte, regt sich schließlich, obwohl sein Blick weiter auf die Flammen gerichtet bleibt. Der Widerschein verwandelt das Grün seiner Iris in Gold.
Müde fährt er sich über das Gesicht und massiert sich die Schläfen. Danach blickt er mich finster an. Seine Brauen ziehen sich zusammen. Abrupt springt er auf.
Reflexartig tue ich es ihm nach.
Wie zwei Boxkämpfer im Ring stehen wir einander gegenüber.
„Verflucht nochmal!“, stößt er zornig hervor. „Ich hasse jeden Moment, in dem ich nicht bei dir war! Ich hasse jede Träne, die du geweint und die ich nicht weggewischt habe. Ich hasse jede gottverdammte Sekunde, die du … die du bei ihm warst!“
Sein Haar hängt ihm ins Gesicht. Es verlangt mich danach, es zurückzustreifen, wie ich es immer getan habe.
„Und wo ich schon einmal dabei bin, Sina: Ich hasse dich für jeden Augenblick, den du nicht zu mir gekommen bist, für jede Minute, die du nicht mit mir, nicht bei mir verbracht hast.“ Seine Hände greifen nach meinen Schultern. Sie drücken sehr fest zu. „Und ich hasse mich! Oh ja, am allermeisten mich! Für meine Blindheit. Meine Gedankenlosigkeit. Meine Dummheit. Mein Verletztsein .“
Jetzt umfassen seine Hände meinen Kopf. Sie sind glühend heiß und seine Augen blitzen. „Wenn ich könnte“, sagt er mit resignierter Anspannung , „dann würde ich dich alles wieder vergessen lassen.“ Der Druck seiner Hände nimmt zu, als wollte er meine Gedanken an Rick aus mir herausquetschen.
Es folgt ein langes Schweigen.
Er löst sich von mir.
„Warum“, beginnt er, „warum hast du mich gerade nicht lieber angelogen?“
Ich starre auf seinen Mund. Diesen weichen, wunderschönen Mund, bei dem, wenn er lächelt, der rechte Mundwinkel sich ein bisschen mehr hebt als der linke.
„Wenn ...“, ich schlucke die Trockenheit in meinem Mund herunter, „... wenn ich dir nicht die Wahrheit erzählt hätte, würdest du es spüren. Du würdest Fragen stellen. Stets und ständig. Ich habe erlebt , wie es ist, ohne Wahrheit zu leben, im Ungewissen zu sein und sich damit zu quälen. Du würdest darüber reden müssen. Es würde nie aufhören und jedes Mal aufs Neue lebendig werden.“
Sein Gesicht wirkt zwar noch aufgewühlt, er hat sich jedoch wieder in der Gewalt. Ich bemerke die Ahnung einer stillschweigenden Zustimmung. Leander erkennt , dass ich recht habe.
„Glaube mir, am liebsten würde ich nichts von dem, was geschehen ist, aussprechen. Noch lieber würde ich es ungeschehen machen.“ Ich wende mich ab, gehe von ihm weg und bleibe erst auf dem Rasen mit dem Rücken zu Leander stehen.
Warm und fest legt sich seine Hand auf meine Schulter.
„Ich habe gehofft, dass du das mit Rick herausfinden würdest“, gestehe ich. „Damals. Ja, ich habe es mir sogar sehnlichst gewünscht! Ich war durcheinander und unsagbar zornig. Wegen Krümel. Weil du nicht da warst. Ich wollte irgendwas tun, um dich verzweifeln zu lassen. So sehr, dass ich dich nie
Weitere Kostenlose Bücher