Meine Seele weiß von dir
vierten Sitzung, ich war schon auf dem Heimweg, kam ich zu dem Schluss, dass ich beim nächsten Mal darüber sprechen musste. Nein, darüber sprechen wollte.
Ich wollte es tun, denn ich spürte, dass ich keinesfalls wie bisher weitermachen konnte. Meine psychische Genesung machte ganz offensichtlich Fortschritte. Zumindest ließ ich Phase zwei und drei meiner Trauer stückweise hinter mir, meinen Zorn, die Hassgefühle, Depressionen. Langsam, ganz allmählich, taumelte ich auf die letzte, die erschreckendste Phase zu: die Akzeptanz.
Ich wollte niemanden mehr bestrafen und war bereit, mich meiner Schuld zu stellen, sie aufzuarbeiten, zu versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen.
In der kommenden Woche, am fünften Mai, hatten Leander und ich Hochzeitstag.
Gab es einen besseren Zeitpunkt der Versöhnung? Ich glaubte es nicht!
Doch was, wenn ich ihn bereits verloren hatte? Was, wenn er mich zwar anhörte - aber abwies?
Bei dem Gedanken schoss mir das Blut ins Gesicht. Mein Herz klopfte schneller und ich spürte, dass ich zu feige war, ihm gegenüberzutreten, einfach nicht genug Mumm hatte, mich dem zu stellen.
Deshalb suchte ich am nächsten Morgen meinen Anwalt auf und wies ihn an, die Scheidung zurückzuziehen, die ich im März eingereicht hatte.
Man konnte seinem Gesicht die Verwunderung darüber ansehen, dass er Leander meinen Entschluss unbedingt zum fünften Mai zukommen lassen sollte. Doch selbstverständlich tat er, worum ich ihn bat. Ich überließ ihm alle meine Unterlagen, weil ich das Zeug nicht mehr im Haus haben wollte.
Später, in meinem Atelier, war ich derart aufgewühlt wegen dieser Entscheidung, dass ich vor Unruhe beinahe zerbarst. Was, wenn Leander mich nicht zurückhaben wollte, um den Rest seines Lebens lieber mit dieser Claudia zu verbringen?
Diese Gedanken waren wie schwere Mühlsteine, zwischen die ich geraten war und die mich langsam, aber sicher mit ihrem tonnenschweren Gewicht zerrieben.
Schließlich hielt ich es nicht länger aus, und da ich sowieso kaum etwas Gescheites zustande brachte, legte ich meine Arbeit zur Seite und läutete den Feierabend ein.
Ich musste raus, brauchte frische Luft und Bewegung, um wieder klarer denken zu können. Rasch zog ich mir Schuhe an und unternahm einen Spaziergang.
Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, wohin ich eigentlich gehen wollte, aber wie von selbst führten meine Schritte mich in Richtung Wald.
Und hier sollte ich ein seltsames Erlebnis haben, das mir Mut einflößte und mich in meiner Entscheidung bestärkte. Mehr noch. Es sagte mir, alles wird gut. Denn er ist es.
Der Eine.
*
Ich halte inne.
Das Gras unter mir ist weich und verströmt einen frischen, würzigen Duft, der sich angenehm mit Leanders Geruch vermischt.
Wir liegen dicht nebeneinander, jedoch ohne uns zu berühren, und schauen in die Unendlichkeit über uns.
Der Himmel ist mit glitzernden Sternen übersät, und der abnehmende Mond hängt als üppige Silbersichel in der Schwärze.
Mir wird schwindlig, denn ich habe das seltsame Gefühl, ich würde in diesem Himmel versinken, von ihm rasend schnell hinabgezogen. Panik steigt in mir auf, als mir klar wird, wann ich dieses Gefühl schon einmal erlebt habe. Ich blinzele, und das Empfinden ist vorbei.
Neben mir spüre ich die Hitze, die von Leanders Körper ausgeht. Seine große, warme Hand greift nach meiner, die klein und kühl ist. Er hält sie fest und ich kann nicht mehr untergehen.
Es ist beinahe alles gesagt. Er kennt nun die Wahrheit. Über die Nacht der Fehlgeburt. Meine seelische Verfassung danach, den psychischen Ausnahmezustand. Über H. H.. Meine allzu langsame Genesung, die späte Erkenntnis der Folgen meines fatalen Handelns. Über meine Liebe zu ihm, die Rücknahme der Scheidung und meinen tiefen Wunsch nach Versöhnung.
„Ich wollte eine zweite Chance“, erinnere ich mich. „Und ich malte mir wohl tausendmal aus, dass du Schuberts Brief an unserem Hochzeitstag erhalten und zu mir kommen würdest. Dass wir zumindest miteinander reden würden.“
Er schweigt, aber ich ahne den Aufruhr in ihm.
Bebend hole ich Luft. „Ich habe mich nach dir gesehnt und wollte dir nur eines sagen, nur dieses eine: Verzeih mir!“
Plötzlich lockert er den festen Griff um meine Hand und lässt sie los.
Sofort fühlt sie sich wieder kalt und leblos an.
Leander dreht sich auf den Bauch, stützt sich auf die Ellenbogen und dann schwebt sein dunkles, gutaussehendes Gesicht über meinem.
Unverwandt
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