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Meine Spur löscht der Fluß

Meine Spur löscht der Fluß

Titel: Meine Spur löscht der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Othmar Franz Lang
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gesprochen, der das Meer selbst gesehen hatte, aber alle seine Verwandten und Stammesangehörigen hatten davon gewußt. Sie wußten, daß die Bäche und Flüsse dem Ozean zufließen, sie wußten auch, daß die Lachse aus dem Meer kommen, hinauf in die Flüsse und Bäche des Indianerlandes.
    Ishi freute sich auf den Sonntag, und es machte ihm nichts aus, daß es ein etwas windiger und nicht sehr warmer Septembertag war. Er saß hinten im Wagen des Professors und ließ sich zeigen, was die Familie Kroeber für sehenswert hielt. Wenn er aber von irgendeiner Stelle der Stadt den Blick auf die Parnassus Heights erhaschen konnte, womöglich noch mit dem Museum, dann wies er erfreut hin und rief: »Wo-wi!« Mein Haus.
    Die anderen merkten bald, daß Ishi zu keiner Zeit vergaß, sich Orientierungspunkte zu setzen, und sie zweifelten keinen Augenblick, daß es ihm jederzeit gelungen wäre, von einem x-beliebigen Punkt der riesigen Stadt aus allein zum Museum zurückzufinden.
    Und so schaukelte er weich gefedert durch den Golden Gate Park, musterte die Menschen, die spazierengingen oder selbst in Autos fuhren. Er wirkte weder überrascht noch verwundert. Er bewunderte nur den Professor, daß er den Wagen lenken konnte, anscheinend ohne Schwierigkeit, und ganz im geheimen fragte er sich, wieso das Auto fahren konnte, ohne Schornstein, ohne Feuer und ohne Rauchfahne, ohne Funkenflug, ohne gellenden Pfiff und ohne Gleise.
    Auf der Klippe oberhalb von Cliff House hielt Professor Kroeber den Wagen an. Das war der schönste Aussichtspunkt weit und breit. Man sah hier nicht nur die Weite des Ozeans von erhöhtem Standpunkt aus, sondern auch unterhalb der Klippen den langgezogenen Strand und die Brandungswellen, die unermüdlich den Strand anliefen.
    Ishi erhob sich, folgte der Hand des Professors, die in die Runde wies, und zog fast entsetzt den Atem ein. Nicht die Höhe der Klippe erschreckte ihn, auch nicht die unendliche Weite des Pazifischen Ozeans, es war auch nicht die Brandung, die ihn so beeindruckte; schäumende Wasser waren ihm nicht fremd, und vom oberen Rand eines Canons konnte man mindestens ebenso tief hinunterschauen. Was ihm im wahrsten Sinn des Wortes den Atem raubte, waren die vielen Menschen unten am Strand.
    Und er sagte es, er hatte nie gedacht, daß auf der Welt, in der es für ihn immer nur ein paar Stammesangehörige gegeben hatte, und einige Weiße, so viele Menschen leben könnten.
    Wie gesagt, es war ein Septembertag, ein windiger und nicht besonders warmer Tag dazu, man konnte zwar einige Tausend Menschen sehen, aber mit dem Strandbesuch an einem heißen Sommertag war das nicht zu vergleichen. Trotzdem konnte sich Ishi an den vielen Menschen, die da tief unter den Klippen entweder im Sand lagen oder spielten oder in ihren monströsen Badekostümen in die Fluten stiegen, nicht satt sehen. Er mußte damit fertig werden, daß die Welt anders war, als er sich vorgestellt und als er gehört hatte. Sie trug mehr Menschen, als er ahnte. Diese Erkenntnis traf ihn fast wie ein Schlag.
    Immer wieder flüsterte er die Worte »Hansi saltu« — »Hansi saltu« — So viele Weiße.
    Kroeber beobachtete Ishi nicht ohne Rührung. Was ging in Ishi, dem letzten Steinzeitmenschen von Nordamerika, vor? Kroeber wußte von Ishi, daß er sich als einzelner empfand, als einer, der unter seinesgleichen keine Verwandten und keine Freunde mehr hatte. Batwi war ein Yana, aber kein Yahi, und außerdem versuchte Batwi unentwegt ein anderer, ein »saltu«, zu sein, was Ishi besonders abstieß. Ishi bewahrte, ganz im Gegensatz zu Batwi, seine Identität, er gab nicht vor, ein anderer zu sein, er tat nicht, als habe er ohnehin alles längst gewußt.
    Ob sich Ishis Weltbild in diesen Minuten oberhalb Cliff House verändert hatte ? Ob er in seiner Zurückgezogenheit auf der Rückfahrt versuchte, das, was er gesehen hatte, mit dem, was ihm seine Mutter und die älteren Männer erzählt hatten, in Übereinstimmung zu bringen? Kroeber empfand die ungeheure Distanz zwischen ihm und den Seinen auf der einen und Ishi auf der anderen Seite. Es war wesentlich schwieriger, den Weg zurückzugehen, den langen Marsch durch die Zeit zur Vorstellungswelt Ishis, als aus dieser Zeit in die Gegenwart geschleudert zu werden. Nur ein Mensch konnte das aushalten.
    Und offensichtlich hielt er es auch aus. Bei der ersten Gelegenheit, da die Gruppe der Universitätsgebäude auf Paranassus Heights wieder in Sicht kam, rief Ishi »Wo-wi!« Mein Haus! »Wo-wi!«

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