Meine Trauer geht - und du bleibst
mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Johann Wolfgang von Goethe
Wann können wir die Trauer gehen lassen? Dazu ist die Lösung zweier Aufgaben nötig. Die erste Aufgabe der Trauer liegt darin, für unseren geliebten Menschen einen sicheren Platz zu finden. Wir können dann die Trauer gehen lassen, wenn wir sicher sind, dass der geliebte Mensch uns nicht verloren geht, sondern an seinem ihm eigenen Ort sicher existiert. Die Liebe, die von der Trauer wachgerufen wird, lässt den geliebten Menschen an seinem sicheren Ort und damit in unserer inneren Realität weiterleben. Über diesen sicheren Ort haben wir Zugang zu unserem geliebten Menschen. Wir sind in einer inneren Beziehung zu ihm, und damit ist er auch in unserem eigenen Inneren zu Hause, obwohl er im Äußeren abwesend bleibt und nicht mehr kommen wird.
Wenn wir diese Gewissheit haben, können wir allmählich auch realisieren, dass unser geliebter Mensch in unserer äußeren Realität nicht mehr da ist. Die Trauer hilft und zwingt uns, zu realisieren, dass der geliebte Menschen tatsächlich gestorben ist, nicht mehr lebt und nicht mehr kommen wird. Der Schmerz in der Trauer zeigt uns das immer wieder unerbittlich, bis wir mit dieser Realität leben können. Wenn die Trauer auch diese zweite Aufgabe – ich nenne sie die »Aufgabe der Realisierung« – erfüllt hat, dann kann sie gehen.
Es findet also ein doppelter Prozess in der Trauerarbeit statt: das Finden und Leben einer neuen, inneren Beziehung zum Verstorbenen und der schmerzliche Abschied vom Verstorbenen in unserer äußeren Realität. Kommt dieser doppelte Prozess zu einem vorläufigen Abschluss, erleben wir nicht nur einen gewissen Trost, sondern die Trauer hat so weit ihren wertvollen Dienst geleistet, dass sie sich zurückziehen kann. Die Liebe zum Verstorbenen aber darf bleiben.
Wir werden in diesem Abschnitt sehen, welche einzelnen Schritte in diesem zweifachen Prozess des Trauerweges nötig sind und wie wir diesen Prozess, in dem die Trauer gehen und die Liebe bleiben darf, unterstützen können.
1. Du bist geborgen an deinem sicheren Ort – und deshalb kann meine Trauer gehen
Trauernde: Ich frage mich immer wieder, wo mein Mann jetzt wohl ist.
Trauerbegleiter: Haben Sie selbst ein Gefühl oder einen Gedanke dazu?
Trauernde: Ich ahne es mehr, als dass ich es weiß.
Trauerbegleiter: Gut, dann folgen Sie jetzt Ihrer Ahnung. Wo sehen oder spüren Sie dann Ihren Mann?
Trauernde: Ich spüre ihn, wenn ich an die Berge denke, in denen wir oft gewandert sind.
Trauerbegleiter: Wenn Sie mögen, können Sie jetzt in Gedanken in die Berge gehen.
Die Trauernde schließt die Augen und ist einige Zeit ganz bei sich.
Trauernde: Ja, hier bin ich meinem Mann nahe.
Trauerbegleiter: Sagen Sie Ihrem Mann jetzt hier in den Bergen: »Hier bin ich dir nahe, weil du hier da bist.«
Trauernde schließt wieder die Augen.
Trauerbegleiter: Wie erleben Sie die Nähe?
Trauernde: Sehr intensiv. Ja, hier in den Bergen ist mein Mann.
Trauerbegleiter: Dann nehmen Sie das Bild von diesen Bergen ganz bewusst jetzt mit und sagen: »Hier in den Bergen werde ich dich immer finden.«
Die Trauernde nickt.
Trauerbegleiter: Wann immer Sie Ihrem Mann nahe sein wollen, können Sie in die Berge gehen und ihm dort begegnen.
Meine Trauer findet einen sicheren Ort für dich
Mit dem Tod verliere ich meinen geliebten Menschen. Er ist nicht mehr da, nicht mehr hier, nicht mehr bei mir. Als Gegenimpuls bricht die Frage auf: Wo bist du jetzt? Die Liebe zum Verstorbenen ist die innerste Kraft, diese Grundfrage in der Trauer zu beantworten und den Verstorbenen zu suchen. Trauerarbeit ist im Wesentlichen die Suche nach einem Ort für den Verstorbenen, an dem er aufgehoben und geborgen ist. Dieser in der Trauerliteratur gänzlich neue Gedanke ist der rote Faden in meinem ersten Trauerbuch »Meine Trauer wird dich finden – Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit.« Die Trauer und die Liebe in der Trauer finden einen oder mehrere sichere Orte für den Verstorbenen. Dies ist das Fundament für eine neue, innere Beziehung zum Verstorbenen. Hier an dieser Stelle sind die wichtigsten Orte im Überblick genannt, an denen Trauernde ihren Verstorbenen finden und ihn geborgen wissen. Näheres finden Sie in dem angegebenen Buch.
Konkrete Orte wie das Grab, das Zimmer des Verstorbenen oder die Unfallstelle
Das Grab ist das erste und wohl älteste Bild des sicheren Ortes, an dem der Verstorbene bewahrt ist.
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