Meine Trauer geht - und du bleibst
dann lange und schwere Auseinandersetzungen – auch mit Gott selbst –, damit wir ihm das Wissen um einen höheren Sinn zutrauen. Die Entdeckung des Sinns lässt sich auch nicht herstellen. Meist leuchtet der Sinn nach langem Fragen und Ringen unversehens auf und wird mir geschenkt. So ist das Finden eines Sinns für den Tod meines geliebten Menschen meist erst Resultat eines langen Prozesses.
Das Neue, das durch die Herausforderung des Todes in mirentsteht, hat seine eigene Bedeutung, die ich nicht als Sinn mit dem Tod des geliebten Menschen »verrechnen« will. Was entstanden ist, kann etwas ganz Eigenes sein. Es wurde zwar durch den Tod meines geliebten Menschen angestoßen, aber hervorgebracht haben es die unbewussten und bewussten Energien meiner Seele. Ihnen und der Ermutigung meines geliebten Menschen verdanke ich es, dass etwas Neues in mir entstanden ist, an dem ich mich als Eigenes freuen kann – und mein geliebter Mensch mit mir. Das Neue in mir hat seinen eigenen Sinn. So wie der geliebte Mensch seinen Sinn in sich und für sich hat, so hat auch das Neue in mir seinen Sinn für sich. Damit finde ich einen neuen und veränderten Sinn für das vor mir liegende Leben, nämlich das zu leben, was sich in mir an Neuem entwickelt – und so liegt der Sinn meines Lebens nach dem Verlust darin, die Liebe zu meinem geliebten verstorbenen Menschen zu leben.
Es wächst Dankbarkeit dir gegenüber – und doch hätte ich gerne noch länger mit dir gelebt
Je mehr ich auf das Leben meines Sohnes zurückblicken kann, umso deutlicher wird mir, wie viel mir mein Sohn gegeben hat. Und je mehr Erinnerungen an seine Lebenszeit ich berge, sammle und bewahre, umso offener liegt das vor mir, was er mir geschenkt hat.
Das ist der tiefere Sinn der Erinnerungsarbeit : Mit ihr berge ich die Schätze, die mir mein geliebter Mensch geschenkt hat. Je intensiver ich die Erinnerungsarbeit leiste, umso reicher wird meine Erinnerung an die gemeinsam gelebte und erlebte Vergangenheit mit meinem geliebten Menschen. Das bewusste Wahrnehmen der reichen Vergangenheit, die ich mit meinem geliebten Menschen erlebt habe, ist die Voraussetzung für die Dankbarkeit. Der Blick fällt zunehmend auf das, was ich mit meinem geliebten Menschen erlebt habe, und immer weniger auf das, was nach seinem Tod nicht mehr möglich ist. Man darf als Außenstehender nie einem Trauernden empfehlen, er solle dankbar sein, habe er doch seinen geliebten Menschen lange Zeit und vielleicht auch noch länger als andere gehabt. Dies ist tief verletzend, weil der akutTrauernde vor allem das sehen muss, was an gemeinsam gedachter Zukunft nicht mehr möglich ist.
Erst allmählich wächst über die Erinnerungsarbeit die Dankbarkeit. Aber es muss deutlich gesagt werden: Dankbarkeit ist immer das Ergebnis eines langen Prozesses, in dessen Mittelpunkt die Erinnerungsarbeit steht (vgl. meine vorigen Bücher). Zugleich signalisiert die Dankbarkeit, dass ich tatsächlich am Ende des Trauerweges angekommen bin. Dankbarkeit kann mich auch bereit machen, mein Schicksal als meines zu achten und mich mit meinem Leben anzufreunden. Es bleibt allerdings eine dunkle, schwere Dankbarkeit. Nach einem schönen Urlaub oder einem großen Fest erleben wir eine heitere Dankbarkeit. Nach dem Tod eines geliebten Menschen ist auch die Dankbarkeit eine begrenzte Dankbarkeit. Bei aller Dankbarkeit hätten wir natürlich alles in der Welt gegeben, noch länger und lange mit dem geliebten Menschen zu leben. Bei allem Reichtum im Vergangenen fehlt die Fülle dessen, was noch möglich gewesen wäre. Das bleibt der Wermutstropfen, genauer gesagt: der Wehmutstropfen (!), in der Dankbarkeit nach dem Tode unseres geliebten Menschen.
Spüren Sie in sich nach, ob es in Ihnen Entwicklungsimpulse gibt – solche die schon länger angestanden haben, und solche, die sich am Tod und am Verlust Ihres geliebten Menschen entzünden.
Nehmen Sie diese Entwicklungsimpulse als ganz eigenen Aufbruch in Ihrer Seele wahr. Schauen Sie gespannt – und Ihr geliebter Mensch wird es ebenso tun –, was sich daraus nach langem, durch die Trauer bedingtem Stillstand entwickeln wird.
Unterstützen und fördern Sie die Entwicklungen Ihrer Seele. Alles Neue, das sich in Ihnen entwickeln darf, hilft Ihnen, in sich die Macht des Todes zu überwinden. Daran dürfen Sie sich freuen – und Ihr geliebter Mensch wird sich leise mitfreuen.
Verrechnen Sie das Neue und den Gewinn, den Sie in Ihren Entwicklungen erleben, nicht mit dem
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