Meine Trauer geht - und du bleibst

wird nun seinen eigenen, ausgezeichneten Platz einnehmen. Es hat einen eigenen und anderen Namen als das verstorbene Kind, es wird einen eigenen und anderen Charakter haben. Darin will es von den Eltern mit eigenen Augen, mit eigenen Blicken gesehen und geschätzt werden. Nur so steht das dazukommende Kind nicht im Schatten des verstorbenen Kindes. Beide dürfen leuchten – das verstorbene und das kommende Kind. Und jedes Leuchten hat seine eigene Farbe.
    Ähnliches gilt für eine neue Partnerschaft. Der zweite Partner darf nicht nur Ersatz oder Nachfolger sein, sondern er will um seiner selbst willen geliebt werden. Er will als Partner mit seiner eigenen Geschichte, mit seiner Persönlichkeit und mit seinen Wünschen heute geliebt werden. Und insofern hat nun die neue Partnerschaft Vorrang: Sie wird wesentlich im Heute und in der konkreten Realität gelebt, das Glück und die Fülle werden heute erlebt, und das ist auch in Ordnung. Die Beziehung zum Verstorbenen wird dabei zurücktreten, ohne dass sie verloren ginge. Dabei darf es nicht darum gehen, welche Beziehung als solche wichtiger oder weniger wichtig ist. Beide haben ihren besonderen Rang und eigenen Platz in der Geschichte und im Leben desHinterbliebenen, auch wenn die jetzige Partnerschaft in den Vordergrund und die Beziehung zum Verstorbenen in den Hintergrund rückt. Der Hinterbliebene kann die Beziehung zum Verstorbenen in den Hintergrund treten lassen, weil klar ist, dass sie nicht verloren geht, und weil sie ein unauslöschlicher Teil im Leben des Hinterbliebenen ist und bleiben wird.
    Ein neuer Partner oder die Geschwister eines Kindes können und werden mit dem Wissen um den Verstorbenen leben, weil sie sicher sein können, dass auch sie einen geachteten und gewürdigten Platz haben, der von dem Platz, den der Verstorbene einnimmt, klar und deutlich unterschieden ist. Und sie können den Verstorbenen achten, weil sie erleben, dass jetzt die konkrete, leiblich erlebte Liebe gelebt und in der ganzen Fülle erlebt werden darf.
Auch wenn ich einen anderen Menschen liebe – dich liebe ich weiterhin
    Ist es nicht zu viel verlangt, zwei oder mehrere Menschen zu lieben? Zunächst scheint es so, und doch ist genau dies die besondere Situation und Aufgabe nach dem Tod eines geliebten Menschen. Wenn der Hinterbliebene beispielsweise jemanden neu kennen und lieben lernt und dennoch den Verstorbenen weiter lieben möchte.
    Auch Eltern können mehrere Kinder lieben, weil sie aus einer unendlichen Liebe heraus lieben. Die unendliche Liebe, auch die zum Verstorbenen, lässt sich teilen, und dabei bleibt jeder Teil der Liebe wieder unendlich. Das ist die »Mathematik des Unendlichen«, die auch für die Liebe gilt. So bleibt die Liebe zum geliebten Verstorbenen weiter unendlich, und eine Liebe zu einem anderen Menschen hat weiter ihre Unendlichkeit oder gewinnt an neuer Unendlichkeit, sollte ein neuer Mensch in mein Leben treten. Wenn ich mich meinem verstorbenen geliebten Menschen zuwende, dann wende ich mich ausschließlich ihm zu – und zwar aus meiner unendlichen Liebe zu ihm. Und wenn ich mich einem anderen Menschen zuwende, dann ebenfalls ganz und ausschließlich aus meiner unendlichen Liebe.
    Zwar sind dann beide Lieben unendlich, und dennoch sind sieunterschiedlich und sollten dies auch sein. So wie Eltern in ihren Lieben zu mehreren Kindern durchaus differenzieren können, so muss auch ein Hinterbliebener differenzieren zwischen der Liebe zum Verstorbenen und der Liebe zum jetzt lebenden Partner oder den anderen Kindern.
    Die Liebe zum Verstorbenen bleibt eine ganz eigene und besondere Liebe. Sie ist natürlich durch die besondere Person des Verstorbenen ausgezeichnet, durch die gemeinsame Geschichte und das gemeinsame Schicksal seines Sterbens und seines Todes. Diese Liebe ist durch den Schmerz und die Trauer geadelt und erhält so ihr eigenes Gewicht und eine unauslöschliche Bedeutung. Sie ist eingebrannt durch die Trauer und bleibt eine innere, geistige Liebe, die in ihrer Verbundenheit über den Tod hinaus unendlich wertvoll ist. Sie ist in dieser Kraft unverwechselbar und durch keine andere Liebe zu ersetzten.
    Eine neue Liebe oder die Liebe zu den Geschwistern des verstorbenen Kindes zeichnet sich dadurch aus, dass sie in der Gegenwart und in der konkreten, leiblich erlebten Realität gelebt werden kann. Der Hinterbliebene darf diese Beziehung mit allen Freuden und allem Glück jetzt ganz leben und auskosten. Darin ist diese Liebe unterschieden von