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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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Wind weht eine mürbgefrorene Rose herab, die auf dem Harsch zerfällt.
    Ich verlasse den Friedhof durch das kleine Tor.
    Mir ist kalt. Wir gehen ins Café in der riesigen Piastenburg, Sitz der polnischen Fürstenfamilie, der Piasten. Unter mittelalterlichen Rüstungen und Gewändern wärmen wir uns auf. Der Kellner bringt einen Cappuccino mit einem Glas Wasser.
    Am Tisch daneben eine junge Frau mit ihrem Freund, sie kaut wie wir an einem trockenen Stück Streußelkuchen. Sie sieht nicht anders aus als die jungen Mädchen in Berlin. Alles in Schwarz, schwarze Hose, schwarzer Pullover, sehr schwarzes Haar, schwarzer Rucksack.
    Ich denke an meinen Vater auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.
    Was weiß er schon von ihr?
    Sie geht ihren eigenen Weg.
    Nie habe ich meinen Vater von Oświęcim, dem Ort seines Vaters, erzählen hören, nie suchte er seine Geburtsstadt auf. Seine Lebenserinnerungen beginnen in Wolgast, dem Geburtsort seiner Mutter.
    Familienleben als Ursprung der Spannungen und Dramen für Vater und Sohn. Ich blicke die junge Frau, dann Paweł an und denke: eine neue Generation. Vielleicht muß sie nicht mehr wie meine Generation die Last des Zuhauses tragen. Vielleicht ist das vorbei. Sie leben anders.
    Â 
    * * *

8. Das Schtetl
    Wir zahlen und verlassen das Café. Von hier aus können wir bis zur östlichen Vorstadt Zasole blicken, wo sich das Gelände des KZ befindet. Wir gehen durch die schmale Judengasse im jüdischen Viertel, dem »Schtetl«, das so gut wie vernichtet worden ist.
    Es gab damals kaum befestigte Straßen und keine funktionierende Kanalisation. Aber es war nicht jenes in der Literatur vorkommende Schtetl, das von Schmutz starrte und in dem man über Pfützen springen mußte, ein Ort der Armut und der Rückständigkeit. Durch Zuwanderung hatte sich die Zahl der Juden vermehrt, die auf der Suche nach Arbeit nach Auschwitz kamen. Lebhaft ging es hier zu, mit Bewohnern, die in einer vertrauten Welt lebten, mit ihren Synagogen und kleinen Geschäften. Hier wurde jüdisch gesprochen und die jüdische Kultur gepflegt, man hielt zusammen, verbunden durch religiöse und traditionelle Rituale.
    Klein, eng verflochten, vertraut. Hier lebte die Familie meines Großvaters, unter jüdischen Musikanten, Pferdehändlern, Kaufleuten, Handwerkern und Orthodoxen.
    Nirgendwo entfachte sich die Zerstörungswut der Deutschen heftiger als im Schtetl. Von fünfhundert jüdischen Gebäuden in Auschwitz sind nur neun erhalten, darunter die Schule, der Feuerwehrposten und das Gemeindehaus.
    Hier lag der Chejder, in dem keine weltlichen Fächer gelehrt wurden. Das einfache Gebäude der öffentlichen Schule, die mein Großvater nach der jüdischen Elementarschule besuchte, steht noch. Ein Gymnasium gab es damals noch nicht.
    Der Chejder begann mit dem vierten Lebensjahr. Schon so früh mußten die jüdischen Kinder lesen lernen und viele Stunden unter den strengen Augen des Chejder-Lehrers mit Buchstabieren und dem Übersetzen hebräischer Texte verbringen. Dazu Verbote und Gebote, die es einzuhalten galt.
    Zu Großvaters Zeiten dauerte der Unterricht in der Grundschule bis ein Uhr, dann folgte eine Mittagspause, und anschließend ging es in den Chejder bis abends sieben oder acht Uhr.
    Die religiöse Erziehung dominierte. Jüdische Bildung war Religion. Das Studium des Talmud. Mein Großvater muß viel von diesen frühen Chejder-Jahren profitiert haben. Er lernte von den »Schriftgelehrten«, den Rabbinern, die nie vergaßen, den Alltag miteinzubeziehen.
    Sie zieht erneut das Foto des Großvaters hervor und stellt ihn sich als Kind vor.
    Nach zwei Jahren hat er den Chejder verlassen, wahrscheinlich war es ihm doch zuviel Religion.
    Das berührt sie sympathisch: Er machte sich schon früh nichts vor und muß sich bei seinem Vater durchgesetzt haben.
    Es gab sogar seit dem 16. Jahrhundert eine Art jüdisches Parlament, lange vor der Entstehung Israels, sagt Paweł. So etwas wie der polnische Reichstag, »waad arba aratsot« genannt.
    Immer wieder erfahre ich Dinge, die ich nicht weiß.
    Wir sind auf dem Weg zu dem Haus, in dem mein Großvater gewohnt hat. Das Hinterhaus eines dieser alten, bescheidenen Häuser muß es sein. Doch ich finde das Haus nicht. Frage eine Nachbarin, zeige die Hausnummer mit den Fingern.
    Bitte Paweł, zu übersetzen. Die Frau

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