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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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bärtigen Mann, der das KZ aus eigener bitterer Erfahrung kennt und eine kleine Gruppe zu den Verbrennungsöfen führt, wo noch Reste des alten Birkenau zu finden seien.
    Der Mann weist auf das KZ -Terrain, die Erde, die Eisenbahnrampe, die Wachtürme, die Nebengleise, die zum Hauptlager Auschwitz führen, die Krematorien II und III mit den Gaskammern im Keller darunter. Neunzig Prozent der Häuser wurden im Jahr 1941 eingeebnet, ganz Birkenau, sagt er, und darüber das Nebenlager gebaut. Auch die umliegenden Dörfer wurden zu vierzig Prozent abgerissen, das sogenannte Interessengebiet: Pławy, Harmęże, Babice, Broszkowice, Bar und Rajsko. Das Baumaterial für die Errichtung der Baracken in Birkenau verwendet.
    Eingeebnet. Wie gehabt.
    Die Welt, die Ferdinand verlassen hat, blutbrauner Schutt.
    Der Leiter der Gruppe, dem Paweł von mir erzählt hat, spricht mich an. Mein Problem des Dazwischen-Seins. Meine Beklommenheit, wenn ich auf Juden treffe, die ein Vernichtungslager überlebt haben. Meine Ehrfurcht, die mich hindert, »normal« mit ihnen zu sprechen. Unwillkürlich werden sie für mich zu moralischen Richtern, und ich spüre, wie ich in den Sog meiner Väter gerissen werde.
    Liegt hier ihr eigentliches Motiv, sich an die Geschichte des Großvaters zu wagen?
    Was niedergemacht wird, denke ich trotzig, kann sich auch wieder erheben: In Gedanken baue ich das Haus wieder auf. Ein ärmliches, graues Haus, nicht anders als die Häuser in Auschwitz, so, wie er es in seinem ersten Bühnenstück Familie Wawroch beschrieben hat. Ein Hinterhaus im Hof, mit einer Außentreppe zur Dachwohnung, kleinen Fenstern, kleinen, niedrigen Zimmern, einem Kabinett.
    Es wird dämmrig, wir beschleunigen unseren Schritt. Nur nicht zurückbleiben, denke ich.
    Unten am Fluß treffe ich wieder das junge Paar aus dem Café, wir kommen ins Gespräch. Als ich frage, wie das ist, heute in Auschwitz zu leben, sagt die junge Frau entschlossen:
    Ich wohne in Oświęcim. Auschwitz, das ist das deutsche Lager.
    Â 
    * * *

10. Auschwitz
    Ich bin still. In mich gekehrt. Von meinen Gedanken an den Großvater völlig in Besitz genommen.
    Nur zwei Schulbusse warten auf dem Parkplatz und etwa zwanzig Autos, nicht gerade viel. Wir stehen in der Buchhandlung am KZ -Gelände und breiten auf einem Seitentisch die gerade erworbene riesige Karte des Geländes aus. Erst jetzt kann ich sehen, daß das Gelände nicht nur von den beiden Flüssen, sondern auch von Seen eingerahmt ist, die eine Flucht erschwert hatten. Paweł fährt mit dem Zeigefinger die Route entlang, die wir vor uns haben.
    Er sagt, wir müssen es schaffen, ehe es dunkel wird. Und dann ins Archiv, bevor sie schließen.
    Wir gehen über matschige Wege durch das Lager.
    Paweł erzählt nüchtern, im Stenogrammstil: Wie Auschwitz entstand.
    Graue Herren in Zivil: Ortsbesichtigung. Verhandlungen mit der Wehrmacht. Übergabe der Kasernengebäude an die SS -Vermessungstrupps. Eine Kommission prüft das für ein Konzentrationslager vorgeschlagene Objekt. Ergebnis: die Kasernen von Auschwitz sind ungeeignet. Der Reichsführer der SS Himmler ordnet neue Inspektion verschiedener Objekte an. Erneute Kommission unter Rudolf Höß. Beschluß, in Auschwitz ein Quarantänedurchgangslager für polnische Häftlinge einzurichten. Höß wird zum Kommandanten des Lagers ernannt. Er erhält von der Gemeinde Auschwitz dreihundert Juden für Aufräumungs- und Organisationsarbeiten.
    Planierarbeiten. Drainage. Häftlinge als Bauarbeiter, Mau
rer, Zimmerleute, Betonpfostensetzer, Stacheldrahtzieher.
    Arbeit unter Druck. An Dauerhaftigkeit war man nicht interessiert.
    Gleisanschlüsse. Richtfest.
    Schuldlos wie die Opfer und ihre Nachkommen zu sein: das wäre ihr Wunsch. Zwar steht sie auf der Seite der Ermordeten, aber sie bleibt an ihre Väter und ihre Geschichte gebunden.
    Unermüdlich stapft Paweł neben mir durch Schnee und Matsch.
    Brüchige Steine. Schimmelnde Baracken.
    Ein Gang auf den Friedhof mag eine Lektion in Weisheit sein, was aber ist ein Gang durch Auschwitz? Der Sturz in ein metaphysisches Vakuum? Eine Lektion in Menschenkunde? Oder in Sprachlosigkeit? Der Verlust des unschuldigen Blicks ein für allemal?
    Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, daß ihr ständig durch den Kopf geht: Was wäre mit ihrem Großvater geschehen,

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