Meine Väter
präsentierte, der am Bahnhof seinen Sohn, den Kronprinzen Rudolf, abholte: in »der einfachen Interimsuniform des Obersten, ohne Säbel, nur einen leichten Spazierstock in der Hand«, wartete er.
Die verrottete Monarchie in Gestalt des Kaisers wird angehimmelt. Ein Oppositioneller hätte weniger gejubelt. Doch der Staat und sein Repräsentant entsprachen seinen Vorstellungen â der Zeitgeist gab ihm Halt und befriedigte seine Sehnsucht nach Heimat.
Er war konservativ, weil er ehrgeizig war; Demokratie hat ihn nie interessiert. War es nicht seltsam, wie wenig er auf die Sozialdemokratie gab, die sich die Völkerversöhnung, also auch mit den Juden, auf ihre Fahnen geschrieben hatte?
Heimat, Kaiserreich, Vaterland, die Frage der Zugehörigkeit, das waren die Dinge, die ihn beschäftigten. Werte wie Ordnung und Treue waren ihm lieb und teuer, doch was von diesen übrigbleiben würde, kümmerte ihn nicht.
Wir gehen über den Heldenplatz, und Renate, auf hohen Absätzen, in ihrem engen Kostüm, zu dem sie einen zartgrauen Shawl um den Kopf geschlungen hat, betrachtet den Reiter auf seinem Pferd abschätzig wie einen Domestiken.
Ich fühle mich in ihrer Gegenwart wohl und betrogen zugleich, als hätte sie mir etwas genommen. Hat sie ja auch.
Wie ging's weiter, fragt sie mit ausgreifender Geste. Sie liebt groÃe Gesten.
Als das Engagement bei den Silbigers zu Ende ging, lief Eliezer sich erneut die Sohlen auf der Suche nach einem Hauslehrerposten ab. Vermutlich wieder nichts, dachte er, als ihm die Empfehlung der Frau des Getreidehändlers einfiel und er ein Bewerbungsschreiben verfaÃte. Es
überraschte ihn, daà er nach wenigen Tagen eine Aufforderung erhielt, sich vorzustellen.
Es war ein bescheidenes Institut am Rand der Stadt, in dem Mittelschülern aus Polen, Ungarn und Tschechei Privatunterricht und Nachhilfestunden erteilt wurden. Mit Stolz erfüllt, da er unter achtzig Bewerbern ausgewählt worden war, übersah er den mitleidigen Blick des Schulleiters, eines schäbig gekleideten, unrasierten Lehrers, der in einer öffentlichen Schule nicht Fuà gefaÃt hatte. Er sollte an dieser Privatschule täglich, auch sonntags, zwölf Jungen sechs Stunden Nachhilfeunterricht erteilen für lumpige fünfzig Gulden. Er rechnete nach, wieviel er für eine Stunde bekam, und war bestürzt. Knochenarbeit, aber was sollte er tun? Er war Realist. So blieb ihm nur wenig Zeit für die Vormittagsvorlesungen.
Schon die erste Begegnung mit seinen Schülern war ihm unangenehm, und in jeder Unterrichtsstunde flackerte die Abneigung in ihm wieder auf. Erneut mit Not und Elend seiner Heimat konfrontiert, nahm er mit einer gewissen AnmaÃung den Kampf mit dem, was er »den Balkan« nannte, auf. Der Schritt vom Verachteten zum Verächter hatte etwas Befriedigendes, und als »Wiener« hatte er, was Arroganz betraf, längst den Bogen raus. Der Mangel an Talent, das Undisziplinierte und Unkultivierte dieser Gesellschaft, die er als »Zigeunerbande« titulierte, erbitterten ihn â und gingen ihm wider Willen zu Herzen. Es war ihm gelungen, sich aus dem Judenviertel in Auschwitz bis zur Döblinger Villa vorzukämpfen â und nun das.
Er hatte Angst, aus der Bürgerwelt, die er durch das Hintertürchen des Hauslehrers beinahe betreten hatte, wieder ausgestoÃen zu werden. Plötzlich mit seiner Vergangenheit, mit Unwissen, Armut und Not konfrontiert zu sein, zeigte ihm, daà er immer noch unsicher war. Noch war seine neue Identität keinesfalls stabil.
Ich hätte die Arbeit hingeschmissen, sagt Renate.
Hat er auch, sage ich. Ãber diesen unkultivierten Schülern vergaà er sogar sein Reformstreben im Schulwesen, das vor allem ärmere Kinder einbinden sollte. Zudem war die Abneigung wohl gegenseitig: Die Schüler weigerten sich, seine Autorität anzuerkennen. Nicht respektiert zu werden brachte ihn in einen Zustand ohnmächtiger Raserei, und sofort witterte er eine Verschwörung.
Tut mir leid, Herr Direktor, aber angesichts des Verhaltens der Schüler ist selbst der schwächste Funke von Wohlwollen in mir erloschen: Krank vor Ãrger, kündigte er nach drei Monaten die Stellung. Er studierte die Zeitungen, bot sich für Schreibarbeiten an und lief quer durch die Stadt, als ihm das Geld für Briefmarken ausgegangen war.
Er war am Ende und spürte seine Einsamkeit.
Es war eine
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