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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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Zeit für ihn die Hohe Tatra gewesen war, das waren nun die Dachsteinfelsen. Wann immer es an den Wochenenden möglich war, fuhr er – zünftig gekleidet mit der Lederhose seines Freundes Arnold Penther, mit Goiserer-Schuhen, Schafwollstutzen und Trachtenhut mit Gamsbart – mit dem Zug über Wels nach Bad Goisern, Ebensee oder Altaussee. Er fühlte sich unerhört österreichisch, wenn er den Weg durch das Tal und den Wald mit leicht gebeugtem Knie und geschmeidigen Hüften absolvierte.
    Im Sommer überholte ihn manchmal der hochgewachsene Theodor Herzl auf seinem Fahrrad, mit dunklem Bart, abgewetzter Krachledernen und Trachtenhut zur Joppe, eine Hand in der Tasche, der Bundesbruder seines Freundes Hermann Bahr. Er lüftete den Hut, blickte ihm
voll Groll nach und zog an seinem Gamsbart. Schließlich war es Herzl gewesen, der behauptet hatte, ein Jude könne niemals ein Österreicher sein. Dieser Anti-Antisemit hatte keine Ahnung, was im Innersten eines Juden vorging. Wenn auch ganz Wien »Juden hinaus« schrie und sein »Judenstaat« die Menschen aufwühlte, so war doch mehr als unklug, darauf mit »Ja, hinaus mit uns« zu antworten. Wie auch immer, Ferdinand, den getauften Christen, jedenfalls betraf das nicht.
    Ferdinand kannte Goisern und Ebensee gut, denn er hatte in den Bergen wiederholt Ausflüge mit den wohlhabenden Familien seiner Schüler gemacht, die in diesen reizvollen Gegenden ihre Sommerfrische verbrachten. Das Ursprüngliche, das er in den Dörfern und ihren Menschen vorfand, zog ihn an, er genoß die Leutseligkeit.
    Er mochte den »Schätzn« in Goisern, wo er manchmal einen selbstgebrannten Birnenschnaps trank, und beschloß, später einmal dorthin zu ziehen, wenn ihm Wien zu lärmend wurde. Überhaupt liebte er diese Region zwischen Gosau, Goisern und Hallstadt, Täler, die von Protestanten bewohnt wurden, die dem Fürsterzbischof von Salzburg widerstanden hatten.
    Die bäuerlichen Rituale erinnerten ihn an jüdische Gebräuche. Er ging zum Schützenfest und nahm im Sommer manchmal am Dorftanz teil. Der auch von Arthur Schnitzler umschwärmten Wirtin vom Thalhof in Reichenau, Olga Waissnix, galt seine wortreiche Verehrung. Nicht nur ihretwegen fuhr er jedes zweite Wochenende vom Südbahnhof nach Reichenau mit seinen prachtvollen Jugendstilvillen, von Hirschgeweihen und Veranden mit Schnitzornamenten gekrönt, es war auch der geheiligte Ort, den die Kaiserfamilie zur Sommerfrische aufsuchte.
    Nach langem Suchen hatte er in Bad Aussee eine Unterkunft gefunden, wo die Wirtsleute nicht schnüffelten oder gar Fragen nach Religion und »Rasse« stellten. Gerade auf dem Land machten sich die Leute die absurdesten Vorstellungen über die Juden, und einmal hatte er gar gehört, daß Bergsteigen etwas damit zu tun habe, ob man Jude sei oder nicht.
    Dagegen jodelte er an. Es war schön, den anderen von Zerklüftung zu Zerklüftung zuzujodeln und später einen Most miteinander zu trinken.
    Welch eine Erfüllung, auf dem Gipfel zu sein! Die vollkommene Loslösung des Ichs, ein meditatives Gefühl. Die Mühen des Aufsteigens, die schmerzenden Muskeln, der Schweiß, die Ermüdung, der Durst, die Entsagung und Selbstkasteiung gaben ihm Zufriedenheit und das Gefühl, sich über die irdische Welt zu erheben.
    Am Gipfel angekommen, genoß er die Geselligkeit. Die Bergkameraden duzten einander und erzählten von Gefahren, die sie bestanden, von Schönem, das sie gesehen hatten, von der Wucht der Natur. Ihr entronnen zu sein war wie eine Wiedergeburt.
    Ferdinand, der Witzbold. Ferdinand, der Windhund. Der dichtende Herzensbrecher, der immer Mordsstimmung machte.
    Doch im Laufe der Jahre vernahm er immer häufiger Töne, die ihm weniger gefielen, etwa, wenn vom Nebentisch im Bad Ischler Café die Verballhornung »Bad Ischeles« an sein Ohr drang und die Leute sich vor Lachen ausschütteten. Und in einer Lokalzeitung las er vom »Sommerfrischenantisemitismus« wetterwendischer Hoteliers, die bis Mitte Juni antisemitisch, von Mitte Juni bis Ende September jedoch judenfreundlich seien: »Judengeld ist eben auch Geld.«
    Hinauf, hinauf! Von oben sah die Welt anders aus. Die Wolken nah, die Wiesen und Seen klein, die Menschen unsichtbar.
    Hier erhob er sich über seine Vergangenheit. Hier war er auserwählt.
    War er wieder in der Stadt, wich dieser Höhenrausch der

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