Meine Väter
vom Mitleid als der »zeittypischen zehnten Muse« energisch distanziert. Die Gefühle seiner Zuschauer sollen zwar mobilisiert werden, das Publikum aber soll sich nicht mit den Figuren identifizieren.
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20. Selbdritt
Wie Martha die lange Wartezeit hinnahm, erfahre ich nicht. Ferdinands Worte, wenn er über sie spricht, sind nur zu Beginn schwärmerisch, dann sind sie distanziert und voll Contenance. Er zögerte, ob er Martha in seinen künstlichen Lebensbau hineinlassen sollte. Bis ihn Vater Schelle mit der Frage bedrängte, wann er, nach vierjähriger Brautzeit, endlich zu heiraten gedenke. Er habe keine Geduld mehr.
Das begann Ferdinand endlich ernst zu nehmen. Nach reiflicher Ãberlegung schlug er vor, sich mit Martha in Görz zu treffen und dort zu heiraten. Heimlich, ohne Aufsehen, an einem abgelegenen Ort. So würde der Vater nichts davon erfahren. Vor dem Görzer Pfarrer und Studienfreund aus Berliner Zeiten Wilhelm Andreas Schmidt, der ihn trauen würde, gab es nichts zu verbergen.
Ferdinand kam abgehetzt und verspätet in Görz an. Als er ins Pfarrhaus stürmte, war von seiner Braut nichts zu sehen. Erst gegen Abend trafen Schmidt und Martha nach einem langen Ausflug erschöpft ein.
Ein Affront. Seinen wütenden Ausbruch beschwichtigte das Ehepaar Schmidt, Martha weinte. Die Zeremonie in der Kreuzkirche in Görz â sie im schlichten, weiÃen Kostüm, er im dunklen Anzug â war schmucklos und kurz.
Die Dürftigkeit ihrer Hochzeit â eine Vorstufe ihrer Ehejahre â wird Martha wohl nicht so schnell vergessen haben: kein langes Kleid, kein Strauà weiÃer Rosen, weder Brautjungfern noch groÃe Tafel â und keine groÃen Gefühle.
Nach einem kleinen Imbià verabschiedete sich das Paar
und ging über den Kirchplatz direkt zum Zug, womit die Hochzeit ihren Abschluà fand. Ich kann mir vorstellen, daà diese schlichte und kühle Feier Martha nach dieser langen Zeit des Wartens zutiefst enttäuschte. Um so mehr, als sich Ferdinand ihr gegenüber weiterhin ambivalent verhielt.
Kurz darauf bezogen sie eine kleine Wohnung in einem langgestreckten Hinterhaus der MariahilferstraÃe, in unmittelbarer Nähe der Kirche. Die bescheidene Ausstattung liehen sie sich bei einem Möbelgeschäft. Ferdinand fand eine Stelle als Korrepetitor und bestand die Lehramtsprüfung, Martha hatte ihre Erzieherinnenstelle behalten.
Zu seinem inneren Leben und seiner Lebenswelt hat Martha keinen Zugang, trotzdem klingt es in Ferdinands Erinnerungen, als empfinde er eine gewisse Unfreiheit. Der Torso des Dramas lag immer noch verschlossen in seiner Schreibtischlade.
Was, wenn man ihn ablehnte, kritisierte? Er scheute vor der Szene mit dem Vatermord.
Er wollte ausdrücken, was in seinem Inneren vorging, wollte aufrühren, aber erst einmal im stillen Kämmerlein.
Das Bühnenstück könnte etwas von ihm verraten.
Sobald es aufgeführt würde, könnte er sich nicht mehr vor der Ãffentlichkeit verstecken. Man würde nicht nur das Stück, sondern auch ihn beurteilen, würde hinter der Fassade seiner neuen Selbstbeherrschung und Selbstsicherheit eine Fülle dunkler, heftiger Gefühle in ihm entdecken. Und wenn der Vater erführe, daà er ein Stück über einen Vatermord geschrieben hatte, über eine familiäre Fata, die die Fata des Gesetzes ersetzt â nicht auszudenken!
Die Angst vor dem Vater verlieà ihn nie.
Läutete es unerwartet, muÃte Martha ins Schlafzimmer verschwinden. Dann nahm sie rasch ihr Buch, trippelte auf Zehenspitzen und schloà die Tür leise hinter sich zu. Sie las viel in jener Zeit.
Wieso lieà sie sich das alles gefallen?
Die Lust, über sie nachzudenken, stellt sich nicht ein.
Zu fern steht sie ihr.
Häufig floh er in die Einsamkeit der Berge. Er liebte die Mühsal des Aufsteigens, den Schweià im Nacken, den sorgenvollen Blick Marthas, wenn er zurückkehrte und die tiefe Müdigkeit, wenn er spät abends ins Bett sank.
Die mythische Alpenlandschaft, Urnatur. Zwischen tollkühnen Felsbesteigungen und den Bedrohungen in den Tälern breitete sich Ruhe aus, auf den Gletschergipfeln konnte er Atem schöpfen, in erhabene Höhen blicken und einen befreiten Blick auf das nebelhafte Getue unten in der Tiefe werfen. Je weiter er sich von der Zivilisation entfernte, desto wohler fühlte er sich.
Was in der Bielskoer
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