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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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geraten, tot?
    In dieser Ungewißheit mußte Ferdinand abreisen und Martha zurücklassen. Er erreichte Strvj, seine neue Dienststelle, meldete sich beim Quartiermeister der Deutschen Südarmee. Er nahm aber kaum wahr, was um ihn geschah, er sah die Menschen nicht, hörte nicht, was sie sprachen, und vergaß, was seines Amtes war.
    Er berichtete dem Intendanten von seinem Zustand und erhielt ein paar Tage dienstfrei, doch die Sorge um Arnold raubte ihm den Schlaf.
    Ãœber Freunde vom Roten Kreuz erfuhr er, daß Arnold
in einem Spital in Verona liege. Arnold hatte Dienst in der Stellung gehabt. Als Zugführer verfügte er über einen kleinen Unterstand, hier hockte er tagelang steif, stumm und vergessen, lebte das, was er für das Urleben hielt, sein einziger Kampf galt den Läusen.
    Schon seit August gab es immer wieder Scharmützel mit den Italienern. Da es im September bereits heftig begonnen hatte zu schneien, glaubte er, daß der Krieg vor der Schneeschmelze im Frühjahr nicht weitergehen würde, da überfielen die Italiener mit gewaltiger Übermacht die österreichischen Stellungen am Pasubio und rieben den größten Teil des Regiments auf.
    Alarm, Schreie, eine wilde Schießerei.
    Ein Horrorszenario vom Krieg entwirft Arnold in ›Sabotage der Jugend‹: von ›Geistern‹, die als ›Tanks‹ heranrollen, ›als Maschinen, als Technik. Ein naturfernes Geschlecht … schuf sich eine Übernatur, an die es glauben mußte.‹
    Der Krieg, ein »Sturm gegen Gott«, so der Titel des Stücks, das an der Front entsteht. Diffuse Bilder, diffus wie das Bild, das der Soldat Arnold Bronner in ihren Augen abgibt.
    Angesichts der Aussichtslosigkeit hatte Arnold dem Zug, den er befehligte, gerade ein »Gemma gemma!« zum Rückzug zugerufen, als ihn die Kugel eines Maschinengewehrs in der Kehle traf.
    Â»Ich lief zuerst weiter, weil ich mir dachte, solange ich laufe, lebe ich. Dann aber zwang es mich in die Knie. Der kleine Werle wollte mich halten, aber ich entglitt ihm. Er bückte sich zu mir, während es ringsum weiterknallte, schrie und schoß. Ich wollte ihm etwas sagen, aber da merkte ich gleichzeitig an seinem Gesicht und an meiner Kehle, daß mir der Kehl-Kopf und die Schulter durchschossen waren. Ich war stumm geworden.«
    Sein rechter Arm wurde lahm. Nur dem kleinen Kaliber der Italiener verdankte er sein Leben, eine österreichische Kugel hätte seinen Kehlkopf zerrissen.
    Er lag hinter der Front der Italiener, hatte noch die Offiziersmütze auf, den Karabiner umgehängt, hatte einen Revolver. Er war der Feind. Ein Italiener hob sein Gewehr und legte auf ihn an. »Dann fiel der Schuß.«
    Er überlebte und bezichtigte sich später der Mystifizierung.
    So lag er da, bewußtlos, röchelnd, das Blut strömte aus seiner Wunde, bis ihn eine italienische Sanitätspatrouille fand: Ecco un Viennese! Casus letalis.
    Kehlkopfdurchschuß. Lazarett. Dunkelheit. Eine Welt jenseits der Sprache. Er glaubt sich tot, meint, den Schuß, der ihn getötet hat, »jahrelang« bis »in seine Träume hinein« gehört zu haben.
    Wer ist er? Er quält sich mit der Frage nach seiner Identität. Wiedergeburtsphantasien. Halluzinationen.
    Vorstellungen, er sei an jenem Tag gestorben und als »anderer Mensch« wiedererstanden.
    Er streift das Verpflichtende ab, das mit seiner Existenz geboren wurde, und damit auch die Existenz der Anderen, seiner Familie, seines Vaters.
    Drei Jahre Kriegsgefangenschaft in Catania, Marsala, Cefalù und eine für immer gebrochene Stimme.
    Er kann nicht mehr schreien.
    Und schreit doch immer mehr.
    Â 
    * * *

28. Zwischenreich
    Bleiern lag die Stimmung über der tiefdunklen Stadt. Die ersten Fälle der Spanischen Grippe, die sich vom Westen her verbreitete, traten in Wien auf und forderten Todesopfer in der entkräfteten Bevölkerung. Die Ärzte standen der rätselhaften Krankheit hilflos gegenüber. Wie alle fürchtete auch Ferdinand die Ansteckungsgefahr und blieb zu Hause, erfüllt von einer seltsamen Mattigkeit.
    Mit dem Wunsch, sich aufzuopfern, gar das Leben für künftige Generationen hinzugeben, damit war es vorbei. Der Idealismus des Volkes war verflogen.
    War sein festes Ideengefüge durcheinandergeraten? Hatte die Konfrontation mit der Realität des Krieges sein Vertrauen in den Staat ins Wanken gebracht?

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