Meine Väter
einziges Wien, das Gott vor allem Bösen beschützen möge!«
Sie ist ratlos. Hat sich an sein Vorhandensein gewöhnt. Hat seine Auslassungen geduldig nach bestem Wissen und Gewissen gefüllt. Folgte seinen Bewegungen und Gedanken.
Und auf einmal erlöscht das Licht, sie sitzt im Dunkel.
Der Reiz dieses Schlusses ist ihr klar: Ferdinand steht gut da. Er hat alles für sein Vaterland getan, sogar einen Sohn geopfert. Und er muà in seiner Lebensgeschichte nicht von den existentiellen Nöten der Juden berichten. Denn: »was nun folgte, gehört in ein anderes Kapitel.«
Kapitel, die der erst Fünfzigjährige nie schrieb, das scheint ihr nicht ohne Bedeutung.
Für eine Weile überkommt sie Verzweiflung.
Warum erzählt er nicht weiter? Was hat es damit auf sich?
Sie überlegt. Stimuliert ihre Vorstellungskraft.
Ein Gedankenschritt folgt dem anderen, und so entsteht eine Bewegung, die von Wort zu Wort führt, mit Pausen, Unsicherheiten, Schritten zurück, Zurückkommen auf frühere Gedanken, Neueinsätzen.
Ich schreibe die Geschichte fort, gestützt auf das, was ich herausbekommen habe und was mir Enkel, Urenkel und Archive sowie Arnolt Bronnen im Protokoll zur Verfügung stellen.
Nach Kriegsende wurde Ferdinand, gerade fünfzig Jahre alt geworden, wie viele seines Alters frühzeitig pensioniert, und bartlos, wie es die Mode war, nahm er Abschied
von vielem. Es wäre für ihn ohnedies eine deprimierende Aussicht gewesen, der Demokratie zu dienen, insofern war er erleichtert. Der österreichische Bundesstaat war nicht mehr sein Land. Viele Gebiete verloren, Tirol zerrissen. Seine Griensteidl-Kollegen hatte es in alle Himmelsrichtungen verschlagen. Viele hatten Ãsterreich verlassen.
Verantwortungslos und bequem fand er das und feig dazu, in der Stunde der Not seiner Heimat zu entfliehen. Zum Glück hatte man ihm ohne Schwierigkeiten â sein immer noch weitgespanntes Freundesnetz machte sich wieder einmal bezahlt â einen österreichischen Paà ausgehändigt; von Rechts wegen wäre er nun Pole geworden.
Die inneren Unruhen im Land entsprachen seinem Zustand. Ein betrogenes, an der Nase herumgeführtes, bettelarmes Land ohne Zukunft.
MuÃte die k. & k. Monarchie wirklich auf diese schändliche Weise aufgelöst werden? Ein Land, verstümmelt wie die frierenden, blinden und hungrigen Kriegsinvaliden, die Wiens StraÃen bevölkerten. Das seine Alleinschuld am Ersten Weltkrieg blutend trug und dem man die GliedmaÃen amputiert hatte: ohne Tschechen, Polen, Italiener und Slowenen. Zudem hatten diese Staaten die alten österreichisch-ungarischen Banknoten durch eigene ersetzt und Ãsterreich mit seiner alten Krone hängengelassen. Eine gigantische Inflation war die Folge, der Deutschland erst allmählich folgte, um dann das kleine Ãsterreich rasant zu überholen.
Dennoch, er würde in Wien bleiben. Immerhin, sein Einakter Der Supplent war noch im Wiener Carltheater aufgeführt worden, allerdings mit wenig Resonanz. Ein Abend, an den er sich mit Schrecken erinnerte. Durch
ein stockdunkles Wien hatte er sich zum Theater hingetastet, die stolpernde, halbblinde Martha, deren Augenleiden in letzter Zeit bedenklich voranschritt, hing schwer an seinem Arm. Und dann die Aufführung: MittelmäÃige Schauspieler gaben ihr Bestes, Geld hatte das nicht gebracht.
Den Boden unter den FüÃen hatte er verloren. Hätte nicht sein Verleger ihm einen kleinen Posten als verantwortlicher Schriftleiter der Mitteilungen des Bundes der Freunde Skandinaviens in Wien vermittelt, den er bis 1933 innehatte, er wäre nach der Pensionierung ein bloÃer »Privatier«. Der Höhepunkt dieser Tätigkeit waren die Reisen zu Selma Lagerlöf, die er verehrte. Er bewunderte an der Nobelpreisträgerin nicht nur, daà sie ihren Lehrerinnenberuf aufgeben konnte, um zu schreiben, sondern auch ihr soziales Engagement. In ihrer Heimatgemeinde war sie Mitglied der Armenverwaltung, beantwortete zahlreiche Bittbriefe und schickte Bedürftigen Geldbeträge. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, als überall Arbeiter entlassen wurden, stellte sie auf ihrem Landgut Arbeiter ein, um die Not zu lindern. Wiederholt war er auf ihrem Gut MÃ¥rbacka zu Gast, dem Gut ihrer Familie, das sie zunächst wegen Schulden verkaufen muÃte, später aber wieder zurückkaufen konnte.
Die Pension ermöglichte ihm und Martha
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