Meine Väter
Fühlte er zum ersten Mal, daà die Gesellschaft, die ihn umgab, schwächer war, als er gedacht hatte?
Armes Deutschland, wie waren seine Menschen heruntergekommen! Wenn nicht Ellida eine Arbeit hätte â das auffallend schöne siebzehnjährige Mädchen war das erste unter seinen Kindern, das sich schon früh durch eine Ganztagsarbeit sein Brot verdiente â und ihnen ab und zu mit Lebensmitteln ausgeholfen hätte, sie wären mit diesen winzigen Lebensmittelrationen und dem mit Mais versetzten, kaum genieÃbaren, matschigen Brot nicht über die Runden gekommen.
Als er hörte, Ludendorff habe einen sofortigen Waffenstillstand gefordert, brach er zusammen.
»Alle Opfer umsonst gebracht, alles Blut umsonst geflossen«, schreibt er. Das Blut seines Sohnes sinnlos vergossen. Das konservative Deutschtum verloren. Der gesell
schaftliche Aufstieg als Schriftsteller zunichte gemacht. Das Unglück seines armen Landes, mit seinem Schicksal so eng verbunden, die allgemeine Untergangsstimmung erfaÃte ihn mit solcher Gewalt, daà er sich die nächsten Wochen nicht aus dem Bett erhob.
Diese Zeit bildet »eine Lücke in meinem Gedächtnis«, schreibt er. Körper und Geist wie gelähmt.
Der totale Zusammenbruch. Demaskiert, alles zerstört, sein Lebensbau, die ganze Welt.
Wenn er überhaupt noch ein Ziel gehabt hatte, so war es der Sieg in diesem wahnsinnigen Krieg. Mit einer Niederlage konnte er nicht leben. Die weltweite Krise übertrug sich auf sein Gemüt, und er verweigerte sich dem Leben voller Angst und Schrecken. So hatte er keine Ahnung, daà Kaiser Karl am 3. November 1918 sein eigenes Heer verraten hatte, indem er den Waffenstillstand einen Tag zu früh verkündet hatte. Die österreichischen Soldaten hatten am Mittag des 3. November aufatmend abgerüstet, hatten Kanonen und Gewehre deponiert und sich auf den Heimmarsch gemacht. Die Italiener aber, noch mitten in den kriegerischen Aktionen, umzingelten sie und nahmen sie gefangen.
Auch von der Absetzung des Hauses Habsburg, der Auflösung der österreichischen Armee, dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates und der Ausrufung der Republik Ãsterreich gelangte nichts in seinen Dämmerschlaf. Nichts vom Zustrom der von den Fronten kommenden zügellosen Soldateska und den wilden Kämpfen an den Bahnhöfen zwischen den Truppen verschiedener Nationalitäten. Nichts vom Aufruhr der ausgehungerten Volksmassen und den ersten Anzeichen eines beginnenden Bürgerkriegs.
Eines Tages jedoch überkam ihn eine innere Ruhe, und er kehrte in seine Welt zurück.
Nie hätte er sich eingestanden, daà etwas an seiner Art und Weise zu leben grundfalsch war. Ihn zwang die Situation keineswegs zum Umdenken. Er verweigerte dem status quo seine Zustimmung, den Untergang des Schönen und Wahren betrauernd, und kehrte in den sicheren Hort seines Nation- und Vaterlandbegriffs zurück.
Der Laissez-faire-Staat des alten Ãsterreich bleibt seine Heimat â im Unterschied zu seinem Sohn Arnold, der Ãsterreich als Heimat des âºProfessorsâ¹ verspottet und dem Deutschland, das »Land meiner Mutter« zur Heimat wird, dessen Menschen sich durch »eine so starke Denkkraft, eine so tiefe Empfindungs-Seligkeit, ein so gerades Herz« auszeichnen.
War dieses nationale Denken zwingend in ihren Vätern angelegt?
»Ich liebte Deutschland, hatte es immer geliebt«, schrieb Arnolt Bronnen im Protokoll , »Deutsch war mir immer ein heiliges Wort gewesen.« Deutschen Schwulst produzierte er auch in den Rheinischen Rebellen : »Sehnsucht hat mich besessen gemacht, Sehnsucht nach Deutschland. Ich fuhr durch Deutschland, habe Deutschland gesehen. Ich trank das Land, Dörfer betäubten mich, Städte kamen über mich wie rote Stiere, Berge drangen in meinen Leib ⦠Unser Leib ist dem Boden verpflichtet ⦠Unser Blut trank die groÃen Ahnen des Volkes â¦Â«
Da war Ferdinand Bronner doch wesentlich nüchterner.
Als Ferdinand, schwankend noch, nach sechs Wochen erstmals wieder auf die StraÃe trat, war alles wie immer. AuÃer herumliegenden Patronenhülsen, Uniformstücken und abgerissenen Kokarden war vom Krieg nichts mehr zu sehen.
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29. Der Sohn der Söhne
Mit dem Beginn der Republik Ãsterreich enden abrupt die Apokryphen Ferdinand Bronners, mit einer Lobpreisung auf sein »herzgeliebtes,
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