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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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Messen. 2009 saßen im Durchschnitt jeweils 13 Prozent der Katholiken im Gottesdienst, ein Jahr später waren es nur noch 12,6 Prozent, die Bandbreite liegt zwischen 22 und 9,5 Prozent. Ein häufig genannter Grund ist: Viele Gottesdienste sind wortlastig und schwer verständlich.
    Das stimmt teilweise. Die katholische Kirche in Deutschland leidet unter der Protestantisierung, das heißt unter Verquasselung. Wir reden uns zu Tode. Wir müssten im Gottesdienst viel mehr feiern. Wer mit mir hier in Liebfrauen Liturgie feiert, der hat ein Erlebnis. Wir wollen die katholische Liturgie mit Sinn und Verstand feiern, nur fünf Prozent des Gottesdienstes sind gesprochenes Wort, alles andere ist gefeierter Glaube. Was fehlt, sind im Grunde die Vorhöfe, in denen katechetisches Wissen vermittelt wird. Wir überlegen, ob wir wieder eine Sonntagsschule anbieten, um zu erklären, was wir in der Messe tun. Das können wir nicht während des Gottesdienstes, das wäre, als würde man einen Text mitsamt Fußnoten vorlesen. Der Zeitgeist verlangt, dass wir alles fastfoodmäßig aufbereiten.
    „ Die katholische Kirche in Deutschland leidet unter der Protestantisierung, das heißt unter Verquasselung. ”
    Inwiefern?
    Bei einer Trauung zum Beispiel kommen Leute in die Kirche, für die alles fremd ist. Manche kommen fast barbusig, sitzen in der Bank und warten, welche Show gleich abgeht. Ich ging kürzlich einige Minuten vor Beginn der Trauung in die Kirche und begann zu erzählen: »Wir sind ja heute gekommen, weil hier gleich etwas Besonderes stattfindet. Da will sich eine Frau an einen Mann binden und ein Mann an eine Frau. Ich finde das so was von erstaunlich. Ich nehme das total ernst und ich nehme an, dass auch Sie das total ernst nehmen, weil Sie das berührt, weil Sie dabei sein wollen und spüren: Das ist etwas Besonderes. Deshalb lade ich Sie ein, die nächsten fünf Minuten einfach zu schweigen. So wie auch in einer großen Liebe die schönsten Momente die sind, in denen man nichts sagt … Ich komme nachher wieder, verkleidet, dann stelle ich Jesus dar. Und es kommen eine Braut und ein Bräutigam, die wollen sich einander versprechen.« Danach bin ich gegangen – und hatte Schweigen in der Kirche. Sie hatten, eben fastfoodmäßig, erfahren, was eigentlich wirklich gleich passiert. Einer der Gäste sagte anschließend zu mir, er habe gedacht, nach der Kirche gehe die Feier los, doch die Feier sei in der Kirche losgegangen; das habe er nie für möglich gehalten. Das hat mich sehr gefreut.
    Kapuziner pflegen traditionell einen volkstümlichen Predigtstil. Sie sind nicht der Einzige, der bildhaft und verständlich predigt. Aber es könnten viel mehr sein. Was empfehlen Sie jenen, die sich anstecken lassen wollen?
    Drei Dinge – eigentlich ganz alte Tugenden für Priester und Theologen. Erstens: jeden Monat einen Roman lesen; eine Familiensaga, einen Thriller, was auch immer. Zweitens: Gedichte lesen. Ich mag Frauendichtung – Nelly Sachs, Hilde Domin, Rose Ausländer. Sie sind für mich Wort-Gebärerinnen; Predigen ist für mich auch Wortgeburt. Drittens: regelmäßig ins Museum gehen. Ich war kürzlich in einer Barlach-Ausstellung. Ich hielt nur zwei Figuren aus, weil sie auf mich sehr stark wirken. Gerade lese ich die Ausführungen von Rilke über Rodin und ich studiere die Glasfenster unserer Kirche. Priester und Theologen, die gut predigen wollen, sollten sich künstlerisch-ästhetisch auseinandersetzen.
    Warum »sollten«? Warum ist das nicht »Standard«, mehr noch: Warum ist dies nicht jedem, der predigt, ein Bedürfnis?
    Wir haben da leider eine Kultur verloren. Das liegt wieder an der Fastfood-Mentalität. Alles muss möglichst schnell verwurstet und vorbereitet und fertig sein. Es gibt zu wenig Lust an der Verwandlung. Doch Predigen ist Verwandlung.
    Geben Sie bitte ein Beispiel.
    Heute saß ein 13-Jähriger vor mir, der zusammen mit seiner kroatischen Mutter und seiner Schwester in die Messe gehen musste. Gezwungenermaßen, das sah man ihm an. Das weckte in mir eine große Lust zu fragen: »Was, Jesus, könntest du jetzt wohl wollen, damit ich gerade mit diesem Jungen ins Gespräch komme?« In einen inneren Dialog, also nicht, indem ich ihn bedränge oder ihn anspreche. Ich sang das Evangelium, machte alles hochfeierlich und bemerkte plötzlich, es bleiben nur noch vier Minuten, um zu predigen … Ich guckte den Jungen an: »Wie stark ist Jesus eigentlich? Wie stark?« Ich hatte überhaupt kein Lampenfieber, obwohl

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