Meine Wut rettet mich
sagt: »Lügen darf man nicht.« Bis das Kind die Mutter drei Tage später beim Lügen erwischt. Und nun plötzlich erklärt sie ihrem Kind, wann Ausnahmen erlaubt sind. Auch in der Kirche gibt es selbstverständlich Ausnahmen.
Und wer entscheidet, was ausnahmsweise möglich ist?
Kürzlich kam ein katholisches Paar zu mir, das seit sechs Jahren kinderlos ist und dem der Arzt eine Retortenbefruchtung empfohlen hat. Die beiden kannten die Haltung der Kirche, kamen aber, weil sie diese verstehen wollten. Wir haben das Thema besprochen, und nun müssen die beiden entscheiden. Es gibt nur eine kirchliche Empfehlung, was immer sie dann tun, es ist gedeckt durch das Gewissen, wenn sie das Gewissen geschult haben, etwa im Gespräch mit mir. Die katholische Kirche ist die Hüterin der Freiheit. Sie wacht eifersüchtig darüber, dass ein Mensch frei ist. Immer dann, wenn ein Mensch nicht frei ist für die Verwirklichung des ganzen Menschseins, dann stellt sie ein Schild auf. Dort steht: Dient das wirklich der Freiheit? Bist du dir da ganz sicher? Ist das frei? Damit komme ich nochmals zur Pille. Kürzlich rief eine Frau mich an, weil ihre 14-jährige Tochter sich beim Frauenarzt unbedingt die Pille holen wollte. Ich riet ihr, mit ihrer Tochter zu reden. Man muss ihr nicht nur erklären, wie die Pille funktioniert. Man muss ihr auch klarmachen, welchen Druck Männer ausüben können. Und Söhnen muss man beibringen, Achtsamkeit zu entwickeln. Reden, achtsam sein – genau das ist katholisch. Ich wüsste keinen, der das anders versteht.
„ Reden, achtsam sein – genau das ist katholisch. ”
Solche Nuancen in der Position der Kirche sind wenigen bewusst. Es gibt ja oft beides. Selbst in Ländern, in denen Aids zu einer Geißel geworden ist, verbieten die Bischöfe Kondome; man weiß aber auch, dass Ordensleute, oft Schwestern, notfalls eigenhändig Kondome nach dem Sonntagsgottesdienst verteilen, um noch mehr Not vorzubeugen. Vielen Menschen bleiben jedoch die starren Haltungen in den Ohren und sie werden davon abgeschreckt.
Das liegt daran, dass sie nur das aufgreifen, was medial so vermittelt wird und als Klischee in der Welt herumgepustet wird.
Wieso soll das an den Medien liegen? Es kann doch jeder einfach das Original hören, durch den Pfarrer oder im Gottesdienst.
Könnte er, ja. Und dort werden ja solche Klischees auch nicht verkündet. Wobei es auch da verschiedene Stimmen gibt. Ich sage immer: »Es gibt den Kulturkatholizismus und den Sauerteigkatholizismus.« Kulturkatholiken glauben, sie müssten ihre letzten Wahrheiten 190-mal erzählen, und glauben, sie leben in einer heiligen Zone. Zu denen gehöre ich nicht. Wir sollen lieber Sauerteig sein, uns mit unserer Meinung in die Welt einmischen, da sein.
Sie können also die Kritik an der katholischen Kirche nicht nachvollziehen?
Nein. Das ist deutsch. Krankhaft deutsch, das gibt es vielleicht noch in Österreich oder in der Schweiz. In der Weltkirche sieht man das anders. Ein prima Beispiel dafür ist die Wahl von Papst Benedikt.
Ich war da in Rom und alle Nichtdeutschen haben den Deutschen gratuliert – »Auguri, Auguri!« Doch die meisten Deutschen, die dort waren, Pilger ebenso wie Journalisten, reagierten konsterniert auf die Glückwünsche – und verunsichert. Es gibt ein geflügeltes Wort in der Kirche: »In Rom werden die Gesetze gemacht, in Deutschland werden sie gehalten.« Die deutsche Gründlichkeit ist einfach schrecklich. Deutsche betreiben alles gründlich, selbst das Grausige wie den Faschismus. Diese deutsche Art von Gründlichkeit widerstrebt dem Katholischen. Im Katholischen ist das Gelassensein zu Hause. Es muss sehr schwierig gewesen sein, hierzulande das Katholische zu verbreiten, es ist fast ein Wunder, dass es dem großen Wanderapostel Bonifatius gelungen ist, das Evangelium hier zu verankern. Ebenso ein Wunder ist es, dass gerade die deutsche Theologie in ihrer Gründlichkeit so wichtige Anstöße gegeben hat, die Kirche voranzubringen.
„ Im Katholischen ist das Gelassene zu Hause. ”
Gerade das Gelassene finden viele im Katholischen eher nicht.
Doch, das finden sie. Sie müssen nur in den Gottesdienst kommen. Oder einfach in einer Kirche vor dem Tabernakel verweilen, das kleine rote Licht anschauen und öfter still sagen: »Du bist da, Jesus. Und ich bin da. Das genügt.«
Kein Punkt, an dem es gegenwärtig rosig aussieht. Die Bischofskonferenz verzeichnet in ihrer Statistik stetig sinkende Teilnahmequoten an heiligen
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