Meine Wut rettet mich
zu denken habe. Nun hatte ich endgültig genug.
„ Ich fand es unmöglich, dass mir hier einer vorschreiben wollte, was ich zu denken habe. Nun hatte ich endgültig genug. ”
Sie beschreiben diesen Termin in Köln als Fügung, nicht als Zufall.
Ich habe erklärt: »Da hat sich der Herr seines Knechtes Joseph Ratzinger bedient, um für mich einen Weg zu finden.« Viele nahmen mir diesen Satz übel, obwohl die biblische Rede vom »Gottesknecht« keinerlei Herabsetzung bedeutet. Gut, ich habe ihn mit Ironie verwendet, und das mag in machen Hirnen bereits böse sein. Oder wie man mir schrieb: überheblich. Es heiße ja, dafür zu danken, dass man nicht so ist wie jene. So habe ich das aber gar nicht gemeint. Ich will nicht sagen, dass ich besser bin. Ich frage mich eher – dies zum Stichwort Zufall –, was mich wirklich trieb, damals nach Köln zu fahren. Ich säße nicht hier, ich wäre nie in eine verantwortliche Position in der evangelischen Publizistik gekommen, wenn ich damals nicht in den Dom gegangen wäre. Vermutlich wäre ich heute noch politischer Korrespondent und wohl irgendwann aus der Kirche ausgetreten.
Wieso hat Sie das eigentlich so empört? Sie waren damals 30 Jahre alt und seit vielen Jahren ein kritischer Katholik. Positionen wie die, die Ratzinger da äußerte, wurden ja nicht zum ersten Mal laut.
Weil das für mich eine neue Qualität hatte. Ich habe Ratzinger als Theologen durchaus gerne gelesen, weil er ein sehr feinsinniger und kenntnisreicher und belesener Mann ist und auch ein guter Stilist. Aber mich hat die Kälte gegenüber der modernen Welt und dem Individuum erschreckt. Auch beim Weltjugendtag im August 2011 in Madrid behauptete er wieder, wer der Mentalität des Individualismus huldige, werde Jesus wahrscheinlich nie begegnen. Solche Aussagen finde ich unerträglich. Das widerspricht völlig meinem Bild vom Christentum.
Was ist für Sie Christentum?
Die Religion, in der der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, und zwar nicht als Mitglied irgendeiner Gruppe oder eines Clans, sondern als Person. Als Individuum eben. Vermutlich hat sogar das Christentum diese Individualität überhaupt entdeckt. In anderen Formen des Glaubens, selbst im Jüdischen, spielt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Volk eine wichtige Rolle. Und die Rechtsentwicklung wurde maßgeblich inspiriert von der aristotelischen Philosophie und von der christlichen Liebe zwischen den Menschen, die zum Beispiel im Galaterbrief des Paulus bezeugt ist. Auch deshalb hat mich Ratzingers rhetorische Scheindialektik – Kirche versus Individuum – so zornig gemacht.
Versuchte keiner, Sie von der Konversion abzuhalten?
Meine katholischen Freunde sagten, na und, lass Ratzinger reden, Rom ist weit, wir machen hier das, was wir für richtig halten.
Warum beruhigte Sie das nicht?
Ich konnte als Kirchensteuerzahler nicht länger mitfinanzieren, dass einer, der die Glaubenskongregation in Rom führte, solche Sätze loslässt. Das wollte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Und ich wollte nicht mehr Mitglied einer Organisation sein, in der ich nicht einmal die Chance habe, einen, der solche Positionen vertritt, abzuwählen. Ich kann Politiker wählen, in der evangelischen Kirche kann ich Leute in die Synode wählen, ich bin durch mein Stimmrecht beteiligt, kann beitragen, dass ein Kurs geändert wird. Das finde ich in einer aufgeklärten Welt unersetzlich. In der katholischen Kirche kann ich das nicht.
Wie reagierte Ihre Mutter?
Ich habe sie an Weihnachten in Bonn am Bahnhof abgeholt. Sie erkundigte sich, in welchen Gottesdienst wir gehen. Ich sagte, nach Königswinter, da predige Peter Hintze 57 . »Aber der ist doch evangelisch«, antwortete sie. »Ich bin konvertiert«, gestand ich. Sie schwieg. Und schwieg. Dann sagte sie: »Wenn ich 30 Jahre jünger wäre, würde ich das auch tun. Jetzt bin ich zu alt für eine solche Veränderung.«
„ Ich war längst Protestant. Ich habe nicht meinen Glauben gewechselt, sondern nur meine Kirche. ”
Warum traten Sie nicht aus, sondern wurden Protestant?
Ich war längst Protestant. Ich habe nicht meinen Glauben gewechselt, sondern nur meine Kirche. Ich war zwanzig, als ich zum ersten Mal Luther las, war begeistert von seiner Idee eines Priestertums aller Glaubenden, und mich ergriff seine Auslegung des Galaterbriefes. Darin zoffte sich Paulus mit Petrus. Denn Petrus war Oberhaupt einer jüdischen Endzeitsekte und wollte, dass jeder, der zu ihr gehören wollte,
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