Meine Wut rettet mich
meint denn der Kant das?« Das war ganz nützlich.
Nicht allen dürfte dieses Hinterfragen oder Nachhaken gefallen haben.
Das trifft durchaus zu. Mir war egal, ob es darum ging, wie Kernspaltung funktionierte, oder darum, weshalb man lieb sein muss. Wenn mir einer auf meine Fragen keine Antwort gab, die mich befriedigte, oder nur ein »Weil das so ist«, was ja nichts anders hieß als, ich solle nun gehorsam sein und mich unterordnen, dann habe ich das nicht ertragen. Das hat dazu geführt, dass ich eine schrammenreiche Schulkarriere gemacht habe, weil ich jene Lehrer nicht als Autoritäten akzeptiert habe, die mir nicht behilflich waren, meine Neugier zu stillen.
Und wie kamen Ihre Eltern mit Ihrem Nachbohren zurecht?
Sehr gut. Mein Vater war sehr liebenswürdig, meine Mutter barock und bildungshungrig. Sie hat nie wirklich verkraftet, dass sie nicht studieren durfte. Sie war eine Handwerkerstochter, und ihre Eltern dachten sich, die heiratet ja sowieso, das lohnt sich nicht. Sie erzählte davon noch als 70-Jährige mit ziemlichem Zorn. Ihr Bildungshunger war manchmal etwas anstrengend, weil sie zur Dominanz neigte und anderen vorschreiben wollte, was gut und richtig ist. Aber sehr gut war, dass bei uns immer viel diskutiert und gestritten wurde.
Auch über religiöse Fragen?
Ja.
Beide Eltern stammten aus gut-katholischen Familien.
Es gab aber auch einen Protestanten. Einer meiner Vorfahren emigrierte als Hugenotte 50 im 17. Jahrhundert wegen seines Glaubens aus dem katholischen Lothringen ins Fränkische. Doch sein Sohn verliebte sich ausgerechnet in eine katholische Schreinerstochter aus der Nachbarstadt Mergentheim und wurde katholisch, um sie heiraten zu können. Solche Geschichten sind schon speziell. Meine Eltern stammten aber aus bewusst katholisch lebenden Familien. Doch sie waren, auch das habe ich als kleiner Junge schon mitbekommen, dem Konzilsgedanken sehr zugetan. Sie hofften, dass diesem Überraschungspapst Johannes XXIII., der ja, wie Ratzinger, erst in hohem Alter Papst geworden war, das Aggiornamento, das »Verheutigen«, ihrer Kirche gelinge, und sie waren begeistert von der Vorstellung, dass sich die Kirche dem Neuen und damit der Gegenwart öffnen wollte. Meine Mutter war deswegen besonders aufgeregt, und so war es bei uns ständig ein Thema, wohin dieser Weg wohl genau führen würde, wann endlich Frauen wirklich Priester würden – all das.
Als im Dezember 1965, nach drei Jahren, das Zweite Vatikanum zu Ende ging, waren Sie acht Jahre alt.
Die Euphorie wurde gleich unter Paul VI. gebremst. Dann folgte der Streit um die Antibabypille, die die Kirche letztlich auf Grundlage der Enzyklika Humanae Vitae 51 von 1968 ablehnte. Damals war vom Aufbruchsgeist aber noch etwas übrig. Der verflog vollends in den Siebzigerjahren, als die Würzburger Synode 52 erfolglos tagte.
Ihr Interesse an der Kirche blieb. Bereits mit zehn Jahren beschäftigten Sie sich mit Theologen wie John Wyclif 53 und Jan Hus 54 , der von Wyclif stark geprägt war. Was gab den Anstoß? Wieso wollten Sie so genau wissen, was diese Männer umtrieb?
Ich ging mit meiner Schulklasse und unserer Religionslehrerin Schwester Margarethe auf einem heimatkundlichen Spaziergang durch Konstanz. Diese Stadt ist ja ganz religionsschwanger, sie ist voller Kirchen und Klöster. Unsere Lehrerin führte uns ins Münster und ins Konzilsgebäude am Hafen, und irgendwann standen wir, gerade ein Eis lutschend, in einem Wohngebiet an einem Findling, auf dem der Name eines Johannes Hus stand, darunter das Datum 6. Juli 1415. »Der wurde verbrannt, er war ein Ketzer«, erklärte Schwester Margarethe mit alemannischem Akzent. »Was ist ein Ketzer?«, fragte ich. »Einer, der dem Papst nicht gehorchte.« »Und deswegen wurde er verbrannt?«, hakte ich nach. Heute würde er das nicht mehr, beschwichtigte die Lehrerin. Ich aber hatte ein Problem mit der Vorstellung, dass man überhaupt je aus einem solchen Grund verbrannt werden konnte, und wollte nun alles wissen. Ich begann beim Kriminaldelikt gegen Hus: bei dem Konzil, dieser Art Synode oder Parlament, die das Urteil über Hus fällte, und bei dem Vertrauensbruch eines Realpolitikers, nämlich König Sigismunds. Er hielt seine Zusage, freies Geleit zu geben, aus eigennützigen, politischen Gründen nicht ein. Das führte mich auf eine ähnliche Situation hundert Jahre später, als Martin Luther freies Geleit zugesagt wurde zum Parteitag in Worms. Irgendwann entdeckte ich dann Luthers
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