Meine Wut rettet mich
war so, im Nagoldtal herrschte die engstirnige, lustfeindliche Variante des Pietismus. Und dann gab es in Korntal und in Mutlangen diese evangelischen Kreise, die 1982/83 für den Frieden fasteten. Ich habe eine Glosse über sie geschrieben. Hungrige Leute seien immer aggressiv, sie sollten lieber schlemmen für den Frieden, sich satt essen bis zum Rülpsen. Das trug mir sehr, sehr wüste Leserbriefe aus frommen Kreisen ein.
Mitte der Achtzigerjahre zogen Sie nach Ulm. Dort war von 1989 an Rolf Scheffbuch 61 Prälat, ein evangelischer Theologe, der auch den Vorsitz der pietistischen Ludwig-Hofacker-Vereinigung hatte. Wie nahmen Sie dies wahr?
Als ich in Ulm lebte, war Scheffbuch noch nicht im Amt. Er ist mir später als Mitglied der EKD-Synode begegnet. Wir waren in vielen Dingen völlig verschiedener Meinung, haben einander aber stets respektiert. Die Bürgerkirche Ulmer Typs empfand ich als erfrischend und sehr positiv. Im reichsstädtischen Ulm erlebte ich eine andere Art des Protestantismus. Diese Reichsstädter stritten mit ihrem Prälaten sehr konstruktiv und mit entsprechendem Selbstbewusstsein: Wir stehen mitten im Leben, und wir zahlen die Kirche. Wir haben schon das Münster bezahlt, auch wenn wir da noch nicht evangelisch waren. Die Stadt ist sehr kultiviert. Der aufgeschlossene, kritische Geist der »Hochschule für Gestaltung Ulm« 62 wehte noch, und zwar auch in die Kirchen hinein, übrigens auch in die katholische.
In beiden Kirchen, evangelisch wie katholisch, gibt es unterschiedliche Strömungen, jede hat ihre Vorzüge und ihre Schwächen. Sie schildern das ja auch. Warum war es für Sie dennoch so wichtig, die Konfession zu wechseln?
Ich bin nicht der Kirche, sondern der Theologie wegen evangelisch geworden. So wie ich auch der Theologie wegen meine Katholizität aufgegeben habe, obwohl ich sehr nette Leute in den Gemeinden kannte. Ich bin bis heute auf beiden Seiten interessanten und liebevollen Menschen eng verbunden. Meine Empörung richtete sich nicht gegen die katholische Basis und die Religiosität, sondern gegen die Verquickung von Theologie und amtskirchlicher Autorität.
„ Konvertiten sind wahrscheinlich hypersensibel. ”
Konvertiten sagt man nach, sie seien Hundertfünfzigprozentige. Das streiten Sie ab. Was, glauben Sie, hat Sie vor dieser Konvertiten-Falle bewahrt?
Weiß ich nicht. Ich stellte das jedenfalls immer in Abrede. Ich würde mittlerweile aber relativieren und sagen: Konvertiten sind wahrscheinlich hypersensibel. Ich auch. Ein Zeichen dafür ist wohl, dass ich mich nach wie vor aufrege über so manches, was in der katholischen Kirche passiert. Evangelische Freunde sagen mir immer wieder: »Du bist doch jetzt bei uns, was beschäftigst du dich noch damit und regst dich auf?« Die kannten aber ja nie etwas anderes und sind deshalb nicht so sensibel. Wer sich bewusst auseinandersetzt, wird sensibler. Wird man hineingeboren und hineingetauft, erscheint einem vieles selbstverständlich. Manches geht einem auf den Wecker, aber das nimmt man halt hin. Mir fällt dazu folgende Geschichte ein: die Ausbürgerung des DDR-Liedermachers Wolf Biermann im November 1976. Er gab damals in der Mensa am Waldhäuser-Ost in Tübingen ein Konzert. Zwei Tage später folgte eine Diskussion, unter anderem mit Erhard Eppler, der als SPD-Spitzenkandidat gegen den CDU-Mann Lothar Späth bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg antrat. Ich war damals ein blutjunger Journalist und hatte Eppler zu interviewen. Der war sehr ungehalten über das Aufsehen, das Biermann erregte. Er habe ja in vielem recht, aber man müsse trotzdem mit der SED reden und sehen, wie man dadurch vorankomme. Biermann sei doch jetzt im Westen und solle nun die Klappe halten. Etliche, die in der Bundesrepublik aufgewachsen sind, sagten zu ihm: »Jetzt hast du in Hamburg eine schöne Wohnung, kannst deine Schallplatten veröffentlichen, jetzt ist doch alles gut, also gib Ruhe.« Ich fand das gar nicht. Ich fand, gerade jetzt müsse sich Biermann äußern, und zwar heftig. Ein Stück weit vergleiche ich das mit meiner Situation als Konvertit.
Auch in der evangelischen Kirche erlebten Sie bald erneut Intoleranz. Eine evangelikale Nachrichtenagentur unterstellte Ihnen, Sie seien aus Karrieregründen übergetreten. Eigentlich müssten aber gerade Protestanten anderen Mitgliedern ihrer Kirche gegenüber tolerant sein. Wie stark hat Sie das getroffen?
Relativ wenig. Ich dachte einfach, es gibt überall Figuren, die einem erst
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