Meine Wut rettet mich
1989, das Vergangene offen aufarbeiten. Er wollte verstehen, wie all dies in der DDR möglich geworden war, welche Mechanismen es gab, wollte die Vergangenheit bewältigen und nicht verdrängen, also Fakten offenlegen, auf diesem Wissen aufbauen und Neues entwickeln. Er stellte sich damit in gewissem Sinne in die Tradition der evangelischen Theologen, die 1945 die Stuttgarter Schulderklärung verfassten. Sie bekannten, dass das deutsche Volk großes Leid über andere gebracht hatte, erklärten sich aber zugleich bereit zu einem neuen Anfang.
Friedrich Schorlemmer gilt als streitbar. Die einen schätzen ihn deshalb als Experten für ein besseres Leben. Kritiker werfen ihm hingegen vor, er wolle vor allen Dingen auffallen. Axel Noack, später Bischof in Magdeburg und ein paar Jahre jünger als Schorlemmer, bemängelte schon zu Studentenzeiten eine effekthascherische Rhetorik. Ein Freund, gesteht Schorlemmer, diagnostizierte eine »hypochondrische Verantwortungsmanie«. Er selbst beschreibt sich hingegen als verletzlich und als »allein, aber nicht einsam«.
Er war immer ein wenig anders. Vieles, was er las, musste er für sich behalten, weil es verbotene Literatur war, die ihm der Vater zugänglich gemacht hatte, um ihn politisch wach und aufmerksam zu halten. Ihm gefielen Dinge, wegen derer Gleichaltrige ihn auslachten, Symphonien zum Beispiel oder Verdi-Opern. Er war anders, weil er aus einem Pfarrhaus stammte, wo man kein FDJ-Hemd trug. Anders auch, weil über Familien wie seiner in der DDR immer eine Wolke der Angst schwebte. Der 12-Jährige bekam haargenau mit, wie sein Vater beinahe im Zuchthaus landete, weil ein Konfirmand eine kritische Äußerung im Unterricht brühwarm an falscher Stelle erzählte. Schorlemmer flößten solche Erfahrungen eine tiefe Ernsthaftigkeit ein. Er erlebte früh, wie manipulierbar die Masse sein kann und wie korrumpierbar Einzelne sind. Unterfüttert wurde dies wiederum durch ein Buch, das ihm der Vater aus Westberlin mitbrachte: »Der Mensch und die Masse« von Ortega y Gasset. Schorlemmer behauptet, er habe sich der Manipulation entzogen. Das gelinge, wenn man gut informiert sei, kritikfähig, auch sich selbst gegenüber, wenn man kritische Freunde habe und sich kritische Fragen stelle: Warum sagt das einer? Was nutzt es ihm? Wen vertritt er? Was sagt er und was will er? Welches ökonomische Interesse treibt ihn an? Welches Machtinteresse?
Nach dem Studium, 1968, ging er als Vikar nach Halle-West. Er wechselte drei Jahre später als Studentenpfarrer nach Merseburg und nach sieben Jahren auf die Pfarrstelle in Wittenberg, wo er 1980 in eine oppositionelle Gruppe einstieg.
Die Jahre 1968 und 1989 waren für Schorlemmer besonders einschneidend. Am 12. August 1968 reiste der damals 24-Jährige mit seiner Freundin nach Prag. Sie wollten sich unbedingt dort verloben, in der Stadt der Hoffnung auf einen menschlicheren Sozialismus, seit im Januar Alexander Du b ˇ c ek zum neuen Parteichef gewählt worden war, und sie waren begeistert von der Fröhlichkeit und Besonnenheit der zigtausend Demonstranten. Zwei Tage nach ihrer Rückkehr, am 21. August, weckte sein Vater ihn mit der Schocknachricht: »Die Russen sind in Prag einmarschiert.« Doch die Ideen blieben in der Welt. Aus letztlich demselben Geist schöpfte 21 Jahre später die demokratische und friedliche Revolution im gesamten sowjetischen Machtbereich ihre Kraft. Im Jahr 1989 war die DDR am Ende – und seine Ehe. Schorlemmer weigert sich, einen Kausalzusammenhang herzustellen. Er besteht auf der privaten Verantwortung für das Gelungene wie für das Scheitern. Außerdem gönne er dem alten Regime keinen solchen Triumph. Schorlemmer redet aber den permanenten Druck nicht klein, unter dem seine Ehe stand. Druck entstand durch die unablässigen Versuche des Staats, mit anonymen Briefen, Beschuldigungen und Gerüchten zu zersetzen; weiteren Druck erzeugte, dass ein Pfarrhaus immer ein offenes Haus sein müsse. An diesem doppelten Druck seien sie als Paar gescheitert. Er kannte diese Art Druck schon durch sein Elternhaus und konnte damit umgehen. Seiner Frau, einer Ärztin, setzte dies alles zu. Sie litt, auch körperlich. Als er sich ein Herz fasste und sich auf dem Kirchentag 1983 weithin sichtbar exponierte, war sie zur Kur, weil ihr Herz schmerzte.
Schorlemmer ist ein Mann des Wortes. Ganz im Sinne des Johannes-Evangeliums: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« Er wuchs auf mit dem Wort.
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