Meine Wut rettet mich
Sein Vater gab ihm Bücher, die die SED-Funktionäre vor allem deshalb verboten hatten, weil sie sich fürchteten vor aufgeklärten Sichtweisen zur nationalsozialistischen Vergangenheit, zum Stalin-Staat und generell zur Sowjetunion. Das Wort wurde für Schorlemmer Zuflucht vor der Kälte auf Bahnsteigen (vertieft in ein Buch, vergaß er zu frieren) und ebenso vor der Kälte des Systems und seiner Helfer. Das Wort wurde zu seiner Pflugschar, mit der er unentwegt das Feld bestellte für eine Welt, in der mehr Freiheit, mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit wachsen würden. Eine Pflugschar, geschmiedet aus starken Worten. Wortgewalt statt Waffengewalt. Worte, hart und scharf wie das Schwert, das er auf dem evangelischen Kirchentag 1983 im Lutherhof zu Wittenberg demonstrativ zur Pflugschar neu schmieden ließ. Diese Aktion machte den Protest gegen die atomare Hochrüstung weithin sichtbar, über die Grenzen der Stadt und auch der DDR hinaus. Denn irgendwie war organisiert worden, dass das Westfernsehen dabei sein konnte und berichtete, welcher Widerstand sich hier formierte.
Aktionen wie diese machten Schorlemmer prominent. Und sie trieben die SED-unabhängige Friedensbewegung voran, genauso wie die kirchlich inspirierten Bürgerrechtler, die sich zuvor bereits das Pflugschar-Symbol als Abzeichen auf die Kleidung genäht hatten. Der Protest wuchs und wuchs, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR rückten ins Blickfeld und die Kritik daran wurde institutionalisiert in der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Ihr schlossen sich Christen wie Marxisten an, Menschen, die den politischen Aufbruch wollten, auch wenn sie Berufsverbot, Verhaftung und Druck riskierten. Parallel spross eine Ausreisebewegung aus Leuten, die provozierten, um ausgewiesen zu werden und im Westen besser leben zu können. Im Schatten dieser Bewegung versuchte die Staatssicherheit, unliebsame Dissidenten loszuwerden wie Stephan Krawczyk, Freya Klier und Bärbel Bohley. Sie wurden verhaftet und dann in den Westen abgeschoben.
Schorlemmer legte 1988 zusammen mit der Wittenberger Friedensgruppe dem Evangelischen Kirchentag »20 Wittenberger Thesen« zur Demokratisierung der DDR vor. Im September 1989 war er unter den Gründern des Demokratischen Aufbruchs . Am 9. Oktober 1989 erscholl in Leipzig der Ruf »Wir sind das Volk«. Am 4. November 1989, vor dem Roten Rathaus in Ost-Berlin, zitierte Schorlemmer als Redner vor einer Million Bürger Martin Luther: »Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet still.« Diese Kundgebung auf dem Alexanderplatz läutete das Ende des SED-Regimes ein. Fünf Tage danach fiel die Mauer. 20 Jahre später bezeichnete Schorlemmer diese Großdemonstration rückblickend als ein Symbol der »gelungenen Entmachtung« des Regimes und nannte den 4. November den »Tag der Befreiung«. Er warnte aber auch wiederholt, darüber hinwegzusehen, wie viele Menschen sich mittlerweile als Verlierer empfinden und für Parolen wieder anfällig werden.
Schorlemmer »kämpft heute für die Beseitigung neuer innerer Mauern mit einer Sprache, die von Versöhnungsbereitschaft getragen« ist sowie in Ost und West verstanden wird: So begründete der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Entscheidung, ihm 1993 den Friedenspreis zu verleihen. »Ich möchte für ein Deutschland einstehen, das aus ziviler Courage nach innen sich eine lebendige Demokratie erhält und das mit viel Engagement wirtschaftliche Kraft für einen gerechten Frieden einsetzt. Wenn Schwerter Pflugscharen werden sollen, dann meint das, dass Frieden Brot bringt«, entgegnete Schorlemmer in der Frankfurter Paulskirche. »Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankel-Mut ein Wandel-Mut wird, wo aus Eigen-Sinn Gemein-Sinn, aus Leid Mitleid, aus Hartherzigkeit Barmherzigkeit, aus Vergeltung Vergebung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft Partnerschaft und aus dem Geschöpf das Mitgeschöpf wird, da erst wird aus dem Menschen ein Mitmensch.« Das sei gar nicht so illusorisch, solange man sich seines Zieles gewiss bleibe. Er zitierte nach Psalm 85 – »Könnten wir doch hören, dass Gott Frieden zusagt« – und schloss: »Ja, wir können.«
Der Prediger nimmt sich selbst beim Wort und spricht in unzählige Rundfunkmikrofone und von Kanzeln, er lud 160 Gäste in die Evangelische Akademie in Wittenberg ein, wo er bis 2007 Studienleiter war, um mit ihnen über Gott, die Welt, die DDR und das neue Deutschland zu reden, brachte über 20 Bücher heraus. Der
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