Meine Wut rettet mich
Gerechtigkeit. Wut hält wach. Und Wut macht mutig. Der Pfarrer, der zu den führenden Köpfen des Protests gegen das DDR-Regime zählte und bis heute ein widerständiger Bürger ist, hat das von klein auf gelernt.
Schorlemmer wurde am 16. Mai 1944 in Wittenberge an der Elbe (Prignitz) geboren. Sein Vater kehrte 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Die Familie zog nach Schönberg und dann nach Werben in der Altmark ins Pfarrhaus. Friedrich war der Älteste, nach ihm kamen zwei Schwestern, dann drei Brüder und 1956, als Nesthäkchen, noch eine Schwester. Er orientierte sich am Vater. Ein Höhepunkt, schwärmt er, waren die Stromsperren. In den Fünfzigerjahren gab es sie ziemlich häufig, weil die Energieversorgung stockte. Alle krochen dann zum Vater ins Bett, und er erzählte ihnen Geschichten – Friedrich als Größter immer zu seinen Füßen, die Jüngeren an den Seiten. Von seiner Mutter weiß er wenig zu erzählen. Sie sorgte dafür, dass das Pfarrhaus ein offenes Haus war, spielte Klavier und Orgel und assistierte dem Vater. Ihr Medizinstudium brach sie wohl deshalb ab. Mit 49 Jahren starb sie an Krebs.
Schorlemmer fühlte sich in zweierlei Welten: drinnen im Pfarrhaus in der behüteten und aufgeklärten Welt seiner Kindheit, draußen in der ihm feindselig gesonnenen Welt des Sozialismus. Drinnen, im Pfarrhaus, fragte keiner, woher man kam, sondern was einem fehlte; man aß Fertigsuppen und Schokolade aus den USA. Draußen, in der DDR, klebten Plakate, auf denen alles, was aus dem Westen kam, als Fratze verrissen war. Im Pfarrhaus wurde er gefördert. Im Arbeiter- und Bauernstaat, draußen, galt er wegen seiner Herkunft als nicht förderungswürdig. Ein Abitur war für so einen nicht vorgesehen, die Mittelschule sollte genügen. Und dann? Gärtner könnte er werden, fand er. In einer großen Gärtnerei im Westen. Die Mutter schob einen Riegel vor: Einer allein geht nicht nach drüben, die Familie müsse zusammenbleiben. Ganz unrecht kam ihm das Verbot gar nicht. Denn eigentlich empfand er durchaus Lust, sich dieser Gesellschaft innerhalb der DDR entgegenzustellen. Also änderte er sein Ziel und beschloss, Theologie, Germanistik und Politologie zu studieren. In Westberlin. Wohnen würde er dann in Ostberlin. Das hieß, er musste nun erst einmal in den Abendkurs an der Volkshochschule, um dort das Abitur zu machen; tagsüber half er dem Vater in der Kirche. Übrigens: auch keinem seiner Geschwister erlaubte der DDR-Staat den direkten Weg zum Abitur. Der Kurs dauerte zwei Jahre. Als er 1962 zu Ende war, stand die Mauer. Sein Studienwunsch war unerreichbar geworden. Wieder suchte er einen neuen Weg. Er schrieb sich in Halle in Theologie ein. Die ersten Vorlesungen entsetzten ihn. Keine einzige der ihn interessierenden Fragen war dort ein Thema. Dennoch fand er rasch eine geistige Heimat, und zwar in der Studentengemeinde, wo er auch Kommilitonen anderer Fachbereiche traf.
Vom ersten Studientag an wurde er nun systematisch beschattet, sicher auch, weil er kurz zuvor den Wehrdienst verweigert hatte. Diese Bespitzelung hörte nie wieder auf, solange die DDR bestand. Schorlemmer kannte die latente Angst, die das erzeugt, schon von zu Hause. Er hatte im Pfarrhaus Leute erlebt, die eine seelische Notlage vorspielten, um zu spionieren. Klickte es, registrierte er sofort, dass das Telefonat abgehört wurde. Vieles bemerkte er, etliches erfuhr er aber erst später: dass ein Studienfreund, dem er vertraute, Stasi-Spitzel war; dass in Polizisten-Schulungen erwogen wurde, das »Problem Schorlemmer« durch einen Verkehrsunfall zu lösen. Schorlemmer erzählt davon ungern: »Ich will mein Leben in der DDR nicht anhand der Stasi erzählen und dauernd in den alten Wunden stochern.«
Nach der Wende in den Neunzigerjahren, schuf eine wachsende Stasi-Hysterie neue Opfer. Wer unter Verdacht war, wurde behandelt wie ein Aussätziger; manche hielten diesen Druck nicht aus. Sie flohen aus dem Leben, ohne abzuwarten, bis nachgewiesen war, dass sie zu Unrecht beschuldigt worden waren. Schorlemmer spürte diese neue Eiszeit, als er 1999 eine Amnestie für die DDR-Täter forderte, die sich keiner Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatten. Oft wurde nur die erste Hälfte dieser Forderung, die Amnestie, verbreitet, nicht aber die Bedingung, die er daran knüpfen wollte – dies auch um die Empörung über ihn zu steigern, vermutet er. Im Land herrschte eine rachsüchtige Stimmung. Schorlemmer wollte von Anfang an, gleich
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