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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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überall im Land brennen riesige Freudenfeuer, an denen man sich mit der Familie oder mit Freunden zum Grillen zusammenfindet.
    Im Mai 2001 bin ich an Lag ba-Omer bei meinen Freunden zum Barbecue eingeladen. Seit je hat dieses Fest für mich einen besonderen Stellenwert, denn an diesem Tag haben meine Eltern 1948 in New York geheiratet.
    Shai hat jedoch andere Pläne. Er schlägt vor, nach Pki’in zu fahren, einem alten Dorf in Obergaliläa, wo Schimon ben Jochai den Zohar niedergeschrieben haben soll. Er erwähnt noch, dass wir bei seinem Freund Daoud, der zur Gemeinschaft der Drusen gehört, übernachten könnten. Da ich weiß, wie herrlich die Gegend dort ist, verzichte ich gern auf meine Grilleinladung.
    Â«Nimm etwas Weißes zum Anziehen mit, das ist dort Sitte», meint Shai, als ich meine Tasche packe.
    Ich habe keine weißen Kleider im Schrank, aber Shai besteht darauf. So erstehe ich, eine halbe Stunde bevor wir losfahren, in einer Boutique um die Ecke ein weites, nicht gerade elegantes weißes Baumwollshirt, das ich mit einem hübschen Gürtel kombiniere. Dazu trage ich hohe Pumps.
    Die Strecke, die nach Pki’in führt, ist traumhaft schön. Galiläa ist eine reizvolle Gegend im Norden des Landes, mit Naturschutzgebieten, Seen, Tälern und zahlreichen archäologisch bedeutsamen Stätten, die sowohl von Juden als auch von Christen und Muslimen verehrt werden. Die Landschaft zwischen Nazareth und Akkon, zwischen Safed und Tiberias ist sehr abwechslungsreich und mit ihren Gebirgen, Flüssen wie dem legendären Jordan und dem Meer von Galiläa sowie dem See Genezareth voller Kontraste.
    In Pki’in werden wir von Daoud und seiner Frau Wafa herzlich begrüßt. Shai und Daoud haben sich vor einigen Jahren bei einem Theatertreffen in Pki’in kennengelernt und angefreundet. Die beiden freuen sich über das Wiedersehen. Das Mittagessen ist köstlich, die Stimmung feierlich. Nach dem Essen, als mir Wafa mit Kardamon gewürzten Kaffee serviert, verschwindet Shai. Er kommt mit zwei Jugendfreunden zurück, die ich noch nicht kenne. Sie wohnen in der Nähe, er hat ihnen erzählt, dass wir kämen. Zu viert schauen wir uns die Umgebung an.
    In Pki’in scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Natur rings umher ist von außerordentlicher Schönheit, Feigen- und Olivenbäumen prägen das Landschaftsbild. Schmale Wege schlängeln sich durchs Land und verbinden die traditionellen Häuser der Drusen, deren Dächer mit Weinreben bewachsen sind. Am Ende unseres Rundgangs kommen wir über einen steilen Pfad zu einem Felsvorsprung, der sich wie eine natürliche Terrasse über die Gegend erhebt und von wo aus man einen großartigen Blick auf die Berge hat. Ich verstauche mir die Knöchel, meine zwölf Zentimeter hohen Absätze sind für diesen Ort völlig ungeeignet. Shai kommt mir zu Hilfe. An der Hand führt er mich auf die andere Seite der Terrasse unter ein Wellblechdach. Dort, genau dem Tal gegenüber, steht ein weiß gedeckter Tisch, darauf Bücher auf Hebräisch, ein silberner Kelch mit Wein, ein Gebetsschal, der Tallit, sowie ein schlichter goldener Ring. Unsere beiden Begleiter treten zu uns unter die Überdachung und bleiben dicht hinter uns stehen. Sie sehen ernst aus. Shai lächelt mich an. Er bedeckt seine Schultern mit dem Gebetsschal, schlägt eines der Bücher auf und beginnt, laut zu lesen.
    Inmitten dieser malerischen Landschaft versuche ich, in meinem auf gut Glück ausgewählten Kleid und auf den wackeligen Stöckelschuhen eine gute Figur zu machen. Die hebräischen Verse verstehe ich kaum, aber ich spüre, dass etwas Feierliches in der Luft liegt. Nach einigen Minuten kann ich mich ganz dem Zauber der Kulisse hingeben. Shai legt das Gebetsbuch auf den Tisch und benetzt seine Lippen mit dem Wein des Kelchs. Dann reicht er ihn an mich weiter, damit auch ich trinke. Er nimmt wieder das Buch in die Hand und liest eine Zeitlang leise. Schließlich greift er nach dem Ring und breitet über unseren Köpfen den auseinandergefalteten Gebetsschal aus. Er steckt mir den Ring an den Zeigefinger der rechten Hand und rezitiert auf Hebräisch: «Durch diesen Ring bist du mir geheiligt nach dem Gesetz Moses und Israels.»
    Von Gefühlen überwältigt, umarme ich ihn. Lange liegen wir uns in den Armen, bis die beiden Freunde klatschen, Shai die Hand schütteln

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