Meinen Sohn bekommt ihr nie
und Surfer, der aufgrund der Touristen und französischsprachigen Einwohner auch «Franzosenstrand» genannt wird, den Familienstrand und natürlich den Hippiestrand, wo man mit Reggaemusik und Trommeln beschallt wird. Man spielt Backgammon und Federball, isst Melone und geröstete Sonnenblumenkerne, spricht, logischerweise, über Politik, und die Frauen betreiben mit unermüdlicher Ausdauer den beliebtesten Strandsport: das «beach dating», das darin besteht, sich die richtige Abendbegleitung zu angeln. Nach einem Strandtag gehen wir essen und mischen uns unters Nachtvolk. Wir tanzen bis zum Morgen, sehen uns in Jaffa den Sonnenaufgang über dem Hafen an, essen an einem arabischen Imbissstand Hummus oder Burekas, gefüllte Blätterteigtaschen, und trinken frisch gepressten Zitronensaft mit Minze. Erst dann gehe ich schlafen.
Beim Flirten habe ich leichtes Spiel. Ich bin blond, Europäerin und Single, was zusammengenommen eine besondere Anziehung auf den israelischen Mann auszuüben scheint. Die Art des Flirtens passt irgendwie zum Image des Landes: Sie ist direkt und ohne Umschweife, aber letztlich sehr einnehmend. Natürlich ist mein Hebräisch noch holprig, doch die meisten Israelis sprechen Englisch, so kommt man leicht ins Gespräch. Die Anwärter stehen Schlange, ich lasse nichts anbrennen und amüsiere mich prächtig.
Die ausgelassene Stimmung hält nicht ewig an. Am 28. September 2000 besucht Ariel Scharon, der damalige Oppositionsführer, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen den Tempelberg in Jerusalem. Sowohl für Juden als auch für Araber, die ihn die Esplanade der Moscheen nennen, ist dieser Ort heilig. Für die Palästinenser und die anderen arabischen Einwohner Israels stellt der Besuch Scharons eine Provokation dar. Unruhen sind die Folge, sieben Palästinenser sterben. Das Ereignis löst die zweite Intifada aus, die der Region die heftigsten Auseinandersetzungen seit den Osloer Friedensverhandlungen von 1993 bringen wird. Ãberall steigt die Anspannung, Selbstmordattentate auf die israelische Zivilbevölkerung nehmen im ganzen Land zu. Die Spirale der Gewalt ist in Gang gesetzt und wird sich noch lange drehen. Trotz allem feiern wir in der Familie bei Tante Flor den Neujahrsbeginn Rosch ha-Schana. Ayala und David, die schon anderes erlebt haben, bleiben gelassen.
Einige Monate später platzt die israelische Hightechblase, eine schwere Wirtschaftskrise ist die Folge. Ich verliere meine Stelle. Im Dezember 2000 tritt Ministerpräsident Ehud Barak von allen seinen Ãmtern zurück und verkündet Neuwahlen. Trotz dieser politisch wie wirtschaftlich unsicheren Zeit ist das Glück wieder auf meiner Seite, und ich finde eine neue Arbeit. Der internationale Konzern, bei dem ich in der Schweiz angestellt war, hat in Tel Aviv eine Niederlassung eröffnet und sucht eine Mitarbeiterin. Da ich dem Stellenprofil genau entspreche, kann ich Anfang 2001 meine neue Tätigkeit aufnehmen. Das Büro befindet sich im Zentrum von Tel Aviv, direkt gegenüber dem Hauptquartier der Armee in einem der groÃen Azrieli-Türme, die die Stadt überragen und häufig mit dem World Trade Center verglichen werden. Als dieses im September 2001 bei den Anschlägen zerstört wird, höre ich die Leute halb scherzhaft, halb im Ernst sagen: «Alles in Ordnung, die Azrieli-Türme stehen ja noch.»
Mit jedem Tag wächst die Gewalt, und die Lage wird zunehmend unsicherer. Und doch mache ich mir nicht allzu viele Sorgen. Ich sage mir, dass ich jederzeit in die Schweiz zurückkehren kann, wenn die Dinge ganz aus dem Ruder laufen und der Terror Tel Aviv erfasst. In meinem Innersten weià ich aber, dass ich dies nicht tun würde.
Shai
Im unbeschwerten Sommer des Jahres 2000 lerne ich durch einen Zufall meinen Nachbarn kennen. Meine Eltern sind zu Besuch, ihr Urlaub geht zu Ende. Am Tag vor ihrer Rückreise, als sie mit dem Taxi zum Flughafen fahren, um einzuchecken, merken sie, dass sie etwas in meiner Wohnung vergessen haben. Sie kehren um und stehen kurz darauf mit ihrem ganzen Gepäck vor verschlossenen Türen auf der StraÃe. Ich bin bei der Arbeit und wäre erst vierzig Minuten später zu Hause. In diesem Moment kommt mein Nachbar vorbei und fragt meine Eltern, ob er ihnen helfen könne. Er bittet meine Mutter in seine Wohnung und kocht Tee für sie, während mein Vater zu Tante Flor eilt, die einen
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