Meinen Sohn bekommt ihr nie
gehen. Ich freue mich, weil ich glaube, dass es für ihn ein wichtiger Schritt ist, dass er sich mit etwas aussöhnen kann, was ihm abhanden gekommen ist oder wonach er noch gar nie gesucht hat, eine Identität, das Gefühl, dazuzugehören. Ich entschlieÃe mich, ihn nicht zu begleiten. Ich habe noch zu tun, etwas auf dem Herd, ich würde ihn zu Hause erwarten.
Als Shai von der Synagoge zurückkommt, ist er ungewöhnlich schweigsam.
«Und, wie war es?», möchte ich wissen.
«Unglaublich», antwortet er.
«Also hat es dir gefallen?», frage ich weiter.
«Mehr als das.»
Das ist alles, was er erzählt. Wir gehen an diesem Abend ins Kino, und ich denke nicht mehr an die Synagoge.
Ein paar Tage später bringt Shai einen Stapel kunstvoll verzierter hebräischer Bücher mit nach Hause. Als Lehrer hat er mehr freie Zeit als ich, weshalb ich ihn oft in die Lektüre vertieft antreffe, wenn ich von der Arbeit heimkomme.
«Was liest du?»
«Ich lerne.»
«Was denn?»
«Die Wurzeln.»
«Die Wurzeln wovon?»
«Des Judentums.»
Ich setze mein Verhör nicht weiter fort und schlussfolgere, dass er sich selbst die Grundlagen des jüdischen Glaubens beibringen möchte. Besser spät als nie, sage ich mir. Viel Beachtung schenke ich dem Ganzen ohnehin nicht, da ich mit dem Kopf ganz woanders bin. Mein Immigrantenstatus räumt mir ein, innerhalb einer bestimmten Frist Geld vom Staat zu einem günstigen Zinssatz zu leihen. Ich möchte meine Ersparnisse daher rechtzeitig in den Kauf einer Wohnung stecken, was mich ordentlich auf Trab hält.
Zwei Wochen sind seit Shais Besuch in der Synagoge vergangen. Eines Morgens fragt er mich plötzlich, ob es mir etwas ausmachen würde, am Freitagabend die Sabbatkerzen anzuzünden und den Kiddusch zu sprechen. Ich wundere mich etwas über diese unerwartete Bitte, sehe darin aber nichts Schlechtes, im Gegenteil. Bei meinen Eltern wurde der Sabbat nicht eingehalten, und ich finde, dass der Zeitpunkt und der Ort passend sind, um unser Leben traditioneller zu gestalten. Letztlich war auch ich diejenige, die damit angefangen und darauf gedrängt hat, die wichtigen Feste zu feiern. Im Ãbrigen gefällt mit der Brauch. Die Kerzen, die die Frau vor Sonnenuntergang anzündet, sind ein Symbol für das spirituelle Licht, das Frieden ins Haus bringt. Ich stelle mir vor, dass wir, wie viele andere säkulare Juden auch, am Freitagabend Kerzen anzünden, den Kiddusch verlesen und ein gutes Nachtmahl haben, bevor wir zum üblichen Wochenendprogramm übergehen. Wie ich mich täusche!
Meine Immobiliensuche war bislang nicht sehr erfolgreich. Entweder ist der Preis zu hoch, oder die Wohnobjekte sind in einem miserablen Zustand oder liegen zu weit auÃerhalb. Ich klage mein Leid Jacobo, meinem kolumbianischen Freund, zu dem wir viel Kontakt haben.
Auf seine unverwechselbare Art wünscht er mir bei meiner Suche Glück: «WeiÃt du, wie man in Israel zu etwas Geld kommt?»
Ich verneine.
«Indem man mit viel Geld ankommt», erklärt er.
Nun schaltet sich Avi, mein Schwiegervater, ein. Ich erfahre, dass seine Familie in Israel mehrere Wohnungen besitzt, unter anderem auch die, die Shai mit seinem Bruder teilte. Eine Wohnung steht derzeit leer, sie könnte für uns infrage kommen. Sie befindet sich in Ramat Gan, der «Gartenhöhe», einer Vorstadt von Tel Aviv, die auch für ihre Diamantenbörse und die Bar-Ilan-Universität, eine der gröÃten Universitäten von Israel, bekannt ist. Die Wohnung muss von Grund auf saniert werden. Doch Avi macht mir ein attraktives Angebot: Wenn ich die Kosten für die Renovierung übernehme, ist seine Familie bereit, mir beim Kaufpreis entgegenzukommen. Was gibt es da noch zu zögern? Wir werden uns über die Ãbernahmebedingungen einig, und ich beauftrage sogleich einen Bauunternehmer. Die Arbeiten werden mehrere Monate dauern.
Noch mehr Traditionen
Damals in Europa, als ich klein war, waren die Dinge noch einfach: Entweder man war Jude, oder man war es nicht. Und wenn man Jude war, dann übte man seinen Glauben aus, oder man übte ihn nicht aus. Kinderleicht.
In Israel selbst ist die Unterscheidung um einiges komplizierter. Innerhalb des Judentums gibt es ungefähr so viele Strömungen, wie es Juden gibt. Bunt durcheinandergewürfelt finden sich weltliche und liberale Juden neben
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