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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabelle Neulinger
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ist.
    Als Nächstes wird sie ein weiteres Stück Stoff einführen, das sie in sich behält, bis die Sterne aufgehen. Sie wird dieses «Beweisstück» bei Tagesanbruch auf mögliche Flecken untersuchen. Sollte Blut daran sein, muss die ganze Prozedur am Folgetag wiederholt werden. Falls Zweifel bestehen, fragt der Ehemann das Rabbinat um Rat, das allein urteilen darf.
    Wenn das Stück Stoff sauber ist, beginnen die sieben Reinheitstage, während deren die Frau weiße Unterwäsche trägt und in weißen Laken schläft. Am Ende dieser sieben Tage und nach einer langen und sorgfältigen Vorbereitung reinigt sich die Frau, indem sie im Ritualbad, der berühmten Mikwe, unter Wasser taucht. Erst dann ist die Frau dem Mann wieder «erlaubt», bis die nächste Blutung einsetzt. Dass es sich dabei um den Zeitpunkt des Eisprungs und folglich die fruchtbaren Tage der Frau handelt, lässt sich unschwer nachrechnen.
    Verheiratete, praktizierende Jüdinnen haben folglich die Pflicht, einmal im Monat die Mikwe aufzusuchen, während sich Männer in der Regel am Abend vor dem Sabbat und den anderen religiösen Festen dort waschen. Nicht nur Personen, auch Gegenstände, insbesondere Kochutensilien, werden in der Mikwe gereinigt, und auch wenn man zum Judentum konvertieren möchte, ist ein Besuch der Mikwe vorgeschrieben.
    Ich erfahre auch, dass die Reinheitsvorschriften einen derart hohen Stellenwert haben, dass eine jüdische Gemeinde zuerst eine Mikwe einrichtet, noch bevor eine Synagoge gebaut wird.
    Nach diesen Unterrichtsstunden bin ich immer etwas durcheinander. Eine schnelle Umfrage unter meinen Freundinnen bestätigt, was ich bereits geahnt habe: Abgesehen vom obligatorischen Badbesuch vor der Hochzeit, wie er auch für Musliminnen gilt, hat noch nie jemand von diesen Dingen gehört. Und sie haben reichlich wenig mit dem festlichen Ritual gemeinsam, das ich am Abend vor unserer Hochzeit kennengelernt habe, mit der symbolischen Reinigung, die von Gesang, Tanz und einem köstlichem Essen begleitet wird. Mir scheint, dass dieses Ritual ein gut gehütetes Geheimnis ist.
    Unterdessen fange ich an, mich im Meer zu reinigen. Es ist mild, wir wohnen am Strand, und Meer- oder Flusswasser ist für die Reinigung genauso geeignet wie das Bad in der Mikwe. Mir wird bewusst, wie ernst Shai das Ganze nimmt, und mir liegt daran, mit ihm zusammen dieses tausendjährige Gebot zu befolgen.
    Ich liebe ihn, er liebt mich, das ist mir durchaus ein paar Kompromisse wert.

Und wo bleibt das Vertrauen?
    Am Frühlingsanfang des Jahres 2002 ist unsere neue Wohnung von Grund auf renoviert und bezugsbereit. Wie mit meinem Schwiegervater vereinbart, habe ich sie nach allen Regeln der Kunst und mit den besten Materialien instand setzen lassen: Isolierung, Gas- und Wasserleitungen, elektrische Anlagen, Böden, Anstrich der Wände.
    Auf mich wirkt Ramat Gan etwas trist, und als wir Tel Aviv verlassen, wird mir schwer ums Herz. Doch ich weiß, wofür wir es tun. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Inhaberin eines eigenen Heims, ich besitze etwas, über das ich frei verfügen und das ich einmal meinen Kindern vermachen kann. Daher wundere ich mich auch nicht, dass mir mein Schwiegervater, dem der Verkauf so wichtig war, mir noch keinen Vertrag vorgelegt hat. Zum Zeitpunkt des Einzugs habe ich also keinen Nachweis in der Hand, dass ich die rechtmäßige Besitzerin bin, dabei sind die ersten Monatsraten schon bezahlt. Ich verdränge die Zweifel, es handelt sich schließlich um die Familie meines Mannes, ich kann ihr vertrauen.
    Shai hält sich immer mehr an seine Glaubensregeln. Am Sabbat fährt er nicht mehr Auto, macht keinen Sport und sieht nicht fern. Seine langen Haare hat er abschneiden lassen, und wenn er nicht gerade die Kippa trägt, hat er meist eine Schirmmütze auf. Er saugt alles, was mit dem Judentum zu tun hat, wie ein Schwamm in sich auf. Ich sehe darin einerseits eine Reaktion auf seine Erziehung, in der Traditionen keine Rolle spielten, und andererseits den Versuch, sich von seinem allzu freizügigen Leben vor der Ehe zu distanzieren.
    Nach den Vorschriften zum Sabbat und zur rituellen Reinigung kommt für Shai nun folgerichtig der Kaschrut an die Reihe, der die jüdischen Speisegesetze enthält. Erneut tritt er sehr behutsam an mich heran. Zusammen beschließen wir, dass wir von nun an zu Hause koscher essen. Außerhalb kann ich

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