Meinen Sohn bekommt ihr nie
weiterhin das essen, was mir beliebt. Wir lassen das Geschirr durch Abkochen und im Ritualbad «kaschern», verzichten auf gewisse Lebensmittel und trennen Fleisch- und Milchprodukte voneinander. Millionen von Menschen essen in Israel so, weshalb die Waren in den gröÃeren Kaufhäusern zwangsläufig koscher sind. Davon abgesehen kochen auch viele meiner Freunde zu Hause koscher und sind weniger streng, wenn sie auswärts essen. Ein groÃes Problem erkenne ich darin nicht.
Zu keinem Zeitpunkt wittere ich Gefahr. Denn zu keinem Zeitpunkt ist mir bewusst, dass Shai beginnt, in der Teschuwa zu leben, dass er, wie zahlreiche andere nichtgläubige Juden, zur «Antwort», so die wörtliche Ãbersetzung, zum strengen Glauben zurückfindet. Meine israelischen Freundinnen hätten an meiner Stelle schnell kapiert, was Sache ist, wohingegen mir als Europäerin dieses Phänomen nicht bekannt war und ich damit die Motive seiner Handlungen nicht so leicht durchschauen konnte.
Ein Vorfall hätte mich allerdings warnen müssen.
Aus Respekt gegenüber meinem Ehemann halte ich den Sabbat nun streng ein. Shai hat in der ganzen Wohnung automatische Schaltuhren installiert, damit ich keinen Strom verwende. Auf diese Weise gehen das Licht, die Klimaanlage und die Heizung zu bestimmten Zeiten an und aus, ganz ohne unser Zutun. Die Mahlzeiten, die wir am Freitagabend und am Samstag essen, koche ich im Voraus und stelle sie warm. Vom Untergang der Sonne am Freitag bis Samstagabend rauche ich nicht mehr, ich nehme nicht mehr das Auto, höre keine Musik, rufe nicht mehr wie sonst meine Eltern an, und wenn ich meine Freundinnen treffen oder an den Strand von Tel Aviv gehen möchte, plane ich es so, dass ich es freitags, vor dem Sabbat, erledige. Kurz: Ich organisiere mein Leben um.
An einem Samstag bekomme ich schlimme Bauchkrämpfe. Der Schmerz wird unerträglich, ich halte ihn kaum aus. Also bitte ich Shai, mich ins Krankenhaus zu bringen.
Er reagiert gereizt. «Bist du sicher? Können wir nicht bis zum Ende des Sabbats warten?»
Ich krümme mich vor Schmerzen. Unmissverständlich mache ich ihm klar, dass ich ein Taxi rufe, wenn er mich nicht fährt. Widerwillig setzt er sich ans Steuer und bringt mich ins Krankenhaus. Man behält mich sofort da und operiert mich an der Gallenblase.
Mein Mann scheint geflissentlich übersehen zu haben, dass in Situationen, in denen ein Leben auf dem Spiel steht, ein Jude verpflichtet ist, religiöse Regeln, die eine Rettung gefährden könnten, zu missachten, auch den Sabbat.
Meine Entlassung aus dem Krankenhaus fällt auf das Pessachfest. Shai möchte den Seder bei uns zu Hause abhalten. Die Vorbereitungen für diesen Abend, bei dem im Kreis der Familie mit Lesungen und typischen Speisen an den Auszug aus Ãgypten erinnert wird, sind sehr aufwendig, und da ich mich noch von der Operation erholen soll, wäre es mir tausendmal lieber gewesen, die Einladung meiner Verwandten anzunehmen und bei meiner GroÃtante in Tel Aviv Pessach zu feiern. Doch Shai besteht darauf, und trotz meiner Erschöpfung willige ich ein.
Am Sederabend, dem 27. März 2002, fängt Shai gerade an, aus der Haggada zu lesen, als von der StraÃe Polizei- und Krankenwagensirenen ertönen. Um die heilige Feier nicht zu stören, weigert sich Shai, den Fernseher oder das Radio einzuschalten. Also essen wir weiter, während von drauÃen ein ohrenbetäubendes Getöse hereindringt. Von dem gerade erst überstandenen Eingriff noch geschwächt, schlafe ich am Tisch ein, ungeachtet des Lärms.
Am nächsten Morgen erfahren wir den Grund: Die Hamas hat in Netanja, einer Nachbarstadt dreiÃig Kilometer nördlich von Tel Aviv, einen Selbstmordanschlag verübt. Der Attentäter drang in den Speisesaal des Parkhotels ein und zündete eine Bombe inmitten von Familien, die gemeinsam das Osterfest feierten. DreiÃig Israelis wurden getötet, einhundertvierzig Personen verletzt, zwanzig davon schwer.
Zwei Tage später beginnen Ariel Scharon und sein Kabinett im Westjordanland mit der «Operation Schutzwall». Damit sollen terroristische Anschläge vereitelt werden, die von den besetzten Gebieten aus gesteuert werden.
Der Monat März ist noch nicht zu Ende, und schon nennt man ihn den «blutigen März». Noch nie seit Beginn der zweiten Intifada starben so viele Menschen durch Attentate. Der Kreislauf der Gewalt
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