Meines Bruders Moerderin
pseudodokumentarisch gedreht, als ginge es wirklich um seine Mutter, eine arme Arbeiterin aus Barceloneta, und als wäre er die spanische Antwort auf Lars von Trier.
Bei diesem Filmfestival lernte er Karin Meinhard kennen, eine Apothekerin aus Nürnberg. Sie war begeisterte Cineastin, sie bewunderte ihn und verliebte sich in ihn. Sie wurde schwanger und folgte ihm nach Barcelona. Tomás war träge und ließ es geschehen. Alles. Er hörte auf zu arbeiten, redete aber weiter von seinem großen neuen Projekt, begann zu trinken. Kurz nacheinander kamen zwei Jungen. Marc und Felipe. Karin lernte Spanisch, studierte noch mal, machte hundert Prüfungen und füllte tausend Formulare aus. Und fand endlich einen Job in einer der vielen Apotheken. Tomás' Eltern halfen ab und zu mit Geld aus, aber sie gaben Karin die Schuld an allem.
Dagmar wusste, was Karin Meinhard durchgemacht hatte. Über zwei Jahre hatte sie selber noch spanisches Recht zum deutschen dazu studiert und sich über ein Jahr lang durch alle Extraprüfungen und Zulassungen hindurchgekämpft. Bis zur großen Abschlussprüfung im Justizministerium in Madrid und der anschließenden Zulassung in der spanischen Rechtsanwaltskammer. Willkommen in Europa. Sie schob die Akte zurück und holte ihren deutschen Kalender hervor. Die Ferientermine. Warwitz. Sie konnte an Werner nicht mehr mit seinem Vornamen denken. Ihren Ex. Den Vater ihrer Kinder. Den Münchner Staranwalt.
Dagmar schloss die Akte Acosta - Meinhard. Sie musste Urlaub nehmen. Sie hatte fast dreitausend Euro gespart, sie musste nach Mallorca. Warwitz war ein Gewohnheitstier. Ende Juni. Er würde zumindest für eine Woche in die Finca fahren.
Und dann hatte sie vielleicht eine Chance, die Kinder dort zu sehen.
Zu sehen. Nichts weiter. Nur sehen, ob sie noch lebten, ob es ihnen gut ging ... Dagmar weinte jetzt hemmungslos. Als das Telefon sich meldete, hörte sie es zuerst nicht mal. Quäk, quäk, quäk-quäk-quäk. Dagmar hatte keine Familie, ihr fiel niemand ein, der sie an San Juan anrufen könnte. Schon gar nicht so spät in der Nacht. Halb zwei! Sie wollte nicht hingehen. Quäk, quäk, quäk-quäk-quäk. Sie gab auf und hob den Hörer ab.
Am anderen Ende erst ein langes Schnaufen, dann zögernd eine Männerstimme mit schwerem Akzent: »Sind Sie die Señora, die abogada , die Anwältin, die auch mal für Ausländer arbeitet?«
»Um was geht es denn?« Dagmar hatte gar nicht antworten wollen. Sie wollte ja nicht mal ans Telefon gehen. Sie wollte Urlaub nehmen.
»Azar ist mein Name. Saïd und Mustaf, das sind meine Freunde. Und wir haben auch Geld, um Sie zu bezahlen. Sie müssen uns helfen!«
»Tut mir Leid ...«, Dagmar musste sich zwingen, nicht einfach aufzulegen, »... ich verreise übermorgen. Bitte wenden Sie sich doch ans Bürgerzentrum ...«
Jetzt schrie der Mann.
»Bitte!!! Saïd und Mustaf haben nichts mit Drogen zu tun! Noch nie im Leben!«
»Das glaube ich Ihnen ja, aber ich muss leider verreisen. Tut mir wirklich Leid«, Dagmar fühlte sich miserabel und gleichzeitig erleichtert. Sie hatte es endlich einmal geschafft, nein zu sagen. »Ich kann Ihnen aber gern eine Telefonnummer geben, unter der Sie ...«
»Leck mich doch am Arsch, puta !« Der Hörer wurde so heftig aufgeknallt, dass es in Dagmars Ohr knackte. Der Akzent war französisch, also vermutlich Algerier oder Marokkaner. Dagmar hatte einmal eher zufällig einem illegalen Nordafrikaner aus der Patsche geholfen, und seitdem gaben die verschiedensten Gruppen und Hilfsorganisationen ihre Telefonnummer weiter. Dagmar war stolz darauf. Sie half gern. Sie wollte kein Geld dafür. Sie war hyperempfindlich gegen jede Form von Rassismus oder Ungerechtigkeit. Sie engagierte sich immer gleich mit dreihundert Prozent.
Aber nicht jetzt. Nicht heute. Nicht, wenn sie zum ersten Mal seit vier Jahren das Geld und die Möglichkeit hatte, vielleicht ihre Kinder zu sehen. Als das Telefon wieder quäkte, machte sie sich hart gegen alle Saïds und Mustafs dieser Stadt.
Sie nahm ab. Sofort blaffte eine Stimme: »Na endlich! Schlafen Sie schon, oder was ist los?!!« Jaime Bartolo Fusté. Ihr Seniorpartner in der Kanzlei. Meister-Macho aller Klassen.
»Nein«, sie versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Ich schlafe nicht. Ich musste sowieso aufstehen. Das Telefon hat geklingelt.«
Fusté hatte absolut keinen Humor. Wieder blaffte er. »An was arbeiten Sie gerade?« Er kam gar nicht auf die Idee, dass Dagmar an San Juan um halb zwei
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