Meines Bruders Moerderin
entdeckte Pia plötzlich eine Schwachstelle in seiner Schönheit. Genau am Hinterkopfwirbel bildete sich eine kleine Tonsur. Noch winzig, aber eindeutig eine Kahlstelle. Der Beginn einer Glatze. Sie entspannte sich etwas.
Sanchez seufzte und sah auf. Seine Mastroiannistirn legte sich in leichte Vorwurfsfalten. »Toni, bitte!« Dazu ein charmantes Lächeln für Pia. Oh Gott!
Toni grinste, sprang auf und schob Pia mit einer leichten Verbeugung den Stuhl hin. »Verzeih, Señorita!« Das fehlte ja noch. Dass sie da vorn direkt vor dem Maul des Löwen saß und den Feind im Rücken hatte. Der dann auf ihre nicht richtig gewaschenen Haare schauen konnte.
Pia übersah den freien Stuhl und konzentrierte ihren ganzen Charme auf Sanchez. »Danke, aber ich stehe lieber.«
Sanchez überging diese Zurückweisung seiner Fürsorge und klopfte auf die Berichte. »Dieser Reimann war zwar Ausländer, aber er war ein Bürger unserer Stadt. Er war sehr reich und sehr prominent. Ich muss Ihnen nicht erklären, wie wichtig dieser Fall ist. Die Medien rennen uns die Türen ein, internationale Fernsehteams sind im Anrollen, und ich bekomme schon den ersten Druck von oben. Ich hoffe, Sie verstehen, dass wir sehr vorsichtig und sehr effizient vorgehen müssen.«
»Das heißt?«, fragte Bonet aggressiv. Er hatte keine Angst vor dem Chef. Und Sanchez hatte einen seltenen Moment von Offenheit.
»Leute, wir haben einen Riesenfall am Hals, und die ganze Welt schaut zu. Wir müssen beweisen, dass wir nicht Provinz sind, sondern Metropole. Ich sage euch das jetzt ganz ehrlich. Ihr seid meine besten Ermittler. Ihr seid von allen anderen Fällen freigestellt. Ihr bildet ein equipo especial , eine Ermittlungsgruppe. Arbeitet zusammen.« Er starrte Toni an, dann lächelte er Pia zu. »Habt ihr das verstanden? Keine Streitereien, keine ehrgeizigen Einzelaktionen. Teamwork!«
»Nein, ja, natürlich, klar. Chef.« Toni antwortete gleich für sie alle mit. Sanchez schien zufrieden.
»Okay. Vergesst fürs Erste Feierabend und Urlaub. Ich setze auf euch. Ich verlange einen Achtundvierzig-Stunden-Einsatz pro Tag. Die Ferien haben begonnen, wir sind nur knapp besetzt. Aber sagt mir, wenn ihr Unterstützung braucht. Ich stehe hinter euch. Ich bin immer für euch da. Für jeden von euch. Und jetzt legt los!«
Er winkte sie mit der Geste eines großen Patriarchen hinaus, und sie gingen brav. An der Tür brüllte er sie plötzlich noch einmal zurück. »Eins noch.« Sie erstarrten mitten in der Bewegung. »Wenn einer von euch Scheiße baut, auch nur andeutungsweise, dann ist der Ofen aus für ihn. Oder sie. Und zwar endgültig. Das war's. Macht die Tür richtig zu.«
Sie kamen zurück in den Brutkasten des provisorischen Großraumbüros. Pia musste Bonet nicht erst ansehen, um zu wissen, dass er als Letzter die Tür nur kurz einschnappen ließ, um sie dann einen kleinen Spalt offen zu lassen. Sollte Sanchez doch auch schwitzen. Kinderkram, aber es half für einen Moment, Frust abzubauen.
»Wir müssen uns absprechen«, tat sich Toni wichtig. Pia nickte höflich. Bonet ging zu seinem Tisch, sah kurz die Papiere durch und hörte seine Nachrichten ab, kam zurück.
»Aber nicht hier. Mittagspause! Gehen wir zu Paco & Lola.«
»Es ist erst kurz nach zehn!« Tonis Empörung ließ seine Stimme ansteigen. »Wir können doch hier im Besprechungszimmer ...«
Weder Pia noch Bonet beachteten ihn. Toni holte sie erst am Ausgang ein. »Wieso nehmen wir kein Auto? Wartet doch auf mich!« Die Wachen an diesem Morgen waren neu, Pia kannte keinen von ihnen. Bonet scherzte mit den beiden. Sie waren Cousins und kamen aus Asturien. Toni holte auf. »Verdammt. Wir sind ein Team. Wieso geschieht nur was ihr wollt?!«
»Weil er der capitán ist und wir nur die inspectóres .« Pia grinste Toni an.
»Gleich sind wir da«, Bonet überquerte die Straße. Die kleine Bar hieß offiziell El Cordobés , aber jeder sagte nur Paco & Lola. Der Raum war hoch, düster und kahl. Vergilbte Stierkampfposter, eine Bar mit Küche dahinter, Bistrotische mit wackliger Marmorplatte und unbequem steife Stühle. Aber es gab einen guten vino de la casa und die besten tapas im ganzen Viertel.
Pia kam selten her. Es machte keinen Sinn für sie, auch noch in ihrer minimalen Freizeit mit Kollegen zusammen zu hocken. Toni war offensichtlich noch nie hier gewesen, er schreckte zurück, als wollte man ihn vergiften. Bonet war Stammgast. Lola winkte aus der Küche, Paco brachte sie nach hinten in einen
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