Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Weihnachtsbäume in den Fenstern, zuhause ist Bescherung bei den Großeltern Kurt und Gertrud unten. Die haben zwei Weihnachtsbäume, dazwischen eine beeindruckende Krippe mit filigranen Wachsengeln, die zu Dutzenden in den Zweigen schweben. Über der Sonntagstreppe hängt der große Herrnhuter Weihnachtsstern. Hier treten Gertrud und ihr Harmonium in Aktion – es dauert, bis die Kinder endlich über Puppenhäuser, Schaukelpferde und die bunten Teller herfallen können. Damit jeder weiß, was seins ist, liegen auf den Gabentischen Lebkuchen-Herzen, worauf mit Zuckerguß der Name geschrieben steht. Sie werden die ganze Weihnachtszeit über gegen HG verteidigt, vergeblich. Immer beißt er die Spitzen ab. Alle.
Das sind viele, weniger als 20 Menschen samt Herzen eigentlich nicht. Karpfen essen sie spät bei Kurt und Gertrud im großen Eßzimmer, festlich, Meißner Porzellan, dunkler Anzug, für 1937 finde ich Smoking oder Uniform. Else führt ein Weihnachtsbuch, minutiös trotz ihrer barocken Schreibweise – hierher ist Sütterlin nicht vorgedrungen – mit Namen, Geschenken, Kosten für jedes Jahr. Ich nehme mal 1934, es könnte auch jedes andere sein. Das Personal kommt zuerst, die beiden Mädchen Erna und Anneliese werden unterschiedlich, aber gleichwertig beschenkt. Erna: Kittel – 7.65, Koffer – 8.90, Batist – 6.55, Decke – 2.25, Kleid – 4.–, Seife – 0.95, Kinderbuch – 3.00 – zusammen RM 33.30. Anneliese bekommt Briefpapier und Küchentücher und noch so allerlei, zusammen RM 31.30. Es gibt eine Lucie, eine Ella, eine Hilde, eine Frau Koch. Hermann, das wird Kutscher Kückelmann sein, ist mit einer Unterhose und Hemd, Kragen, Schlips dabei für zusammen RM 3.85, dafür bekommt er Kuchen und einen Hasen.
Endlich weiß ich, wo all die Hasen bleiben und warum HG seine Jagd mit dem dazugehörigen Jagdfrühstück auf drei Tage vor Weihnachten legt. Hinz und Kunz werden mit Hasen beschenkt, das macht ja Sinn. Familie und Freunde stehen in dem Buch – Hasen, Bücher, Spiele, Bälle. Neffe Haymo bekommt »Becher, Lackschuhe« für 50 Pfennige, Hinrichs’ Tochter Antje »Puppe« für 85 Pfennige, die dänische Haustochter Anette – genau! Die mit dem Leuchten im Gesicht – kriegt einen »Fuchs« für RM 15, »Seife, Schwamm« für 2.30, »Kragen« für 1.40 – zusammen RM 18.70.
In dem Buch finde ich eine Liste: verheiratete männliche Angestellte mit Kindern, verheiratete männliche Angestellte ohne Kinder, unverheiratete männliche Angestellte ohne Kinder, verheiratete weibliche Angestellte mit Kind, verheiratete weibliche Angestellte ohne Kind, ledige weibliche Angestellte ohne Kinder. Dasselbe für die Arbeiter und für sieben Betriebsstätten, zusammen 94 Personen. Die Kinder habe ich nicht gezählt. Alle bekommen etwas, Stollen, Bücher, Spielzeug, Süßigkeiten. Else teilt sich dieses Pensum mit Gertrud, alle erhalten einen handgeschriebenen Weihnachtswunsch. Die beiden müssen im Oktober angefangen haben.
In Elses Weihnachts-Buch ist nachzulesen, was die Kinder für die Großeltern und die Paten gebastelt haben, außerdem existiert ein Verzeichnis mit 43 Freunden, die entweder kleine Päckchen oder Weihnachtsgrüße erhalten. Dann die Aufstellung des Weihnachtsgebäcks: »4 Spezies (?), dünner ausrollen, Judenkuchen, Heidesand, Buttergebäck, Vanillekränze, Nußmakronen einf., Makronen, Kokosmakronen, Eigelbkuchen, Aristokraten, braune Kuchen – 1/2 Portion reichlich, Prinzeßmandeln, Mandelberge, gebrannte Mandeln, kandierte Walnüsse, Nougat – zu hart, Marzipan, gefüllte Datteln – nicht bis Silvester gereicht, Knusperhaus«. Die Geschenke für die Kinder: »Jochen – Dampfmaschine für 10 Mark, Handwerkskasten für 7.50, Wassermühle für 3.– Mark« etc. Für die Töchter ähnlich aufwendig, HG bekommt »Manschettenknöpfe für 26.– Mark, Tabak und Pfeifentasche für 3.75, Patiencekarten für 3.– Mark« und so weiter. Merke: Das macht Else jedes Jahr. Ein Albtraum!
»Wir müssen alle mit unseren schwachen Kräften mithelfen, Hitler sein schweres Amt zu erleichtern«, schreibt sie 1934 in die Kindertagebücher, und weiter:«Hitler hat gerade eine große, blutige, aber sicher notwendige Reinigung innerhalb der SA und Partei vollzogen, hoffen wir, daß dies der letzte Akt dieser Art zu sein braucht«. Bei HG steht im Tagebuch: »Alarmierende politische Nachrichten – Stabschef Röhm durch Hitler verhaftet und abgesetzt, General Schleicher und Frau
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