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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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Mai 1933 in Kloster Gröningen. Das ist das Gut von Johannes Klamroth, Kurts Bruder, und dessen Frau Minette, genannt Nettchen – »Tante Nettchen, welche Ehr, jumheidi, jumheida, stammt von Karl dem Großen her«. 35 Mitglieder von 69 sind anwesend, und es geht alles seinen geordneten Gang: Totenehrung, Kassensturz, Stiftungsvermögen, Hochzeiten, Kindstaufen, Konfirmationen, Ende der Hauptversammlung um 2 h 10 nachmittags.
    Mit einem Dringlichkeitsantrag von Willy Busse wird sie abends um halb acht wieder eröffnet – »manche heißen Busse, manche von und manche bloß, manchem zum Verdrusse« – einer von denen ist das. Der ist aber schon abgereist, und in seinem Namen macht HG den Vorschlag, in das Grundgesetz des Klamroth’schen Familienverbandes den sogenannten Arier-Paragraphen aufzunehmen. HGs Begründung laut Protokoll: »Aus den Ahnentafeln geht einwandfrei hervor, daß sämtliche Mitglieder des Familienverbandes rein arischer Abkunft sind. Wir sind mit Recht stolz auf diese Rassereinheit unserer Sippe, die auch in Zukunft erhalten werden muß.« Der »Arier-Paragraph« soll das sicherstellen, demzufolge ein Mitglied, das eine Ehe mit einem Nichtarier eingeht, die Mitgliedschaft verliert: »In der heutigen Zeit ist das auch insofern wichtig für die Mitglieder, als jetzt häufig für bestimmte Berufe der Nachweis arischer Abkunft verlangt wird.« So wurde die Dringlichkeit des Antrags begründet.
    Bei der Aussprache gibt es keine Wortmeldung, einstimmige Annahme, Ende der Sitzung um acht Uhr. Hinweis im Protokoll: der Text des Paragraphen sei beim Reichsinnenmisterium zu erfragen, der Vorstand möge die Erkundigung einziehen. Am 17. August 1933 wird der »Arier-Paragraph 9a« in das Vereinsregister beim Amtsgericht Halberstadt eingetragen: »Als nichtarisch gilt, wer von nicht-arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht-arisch ist.« Erst zwei Jahre später werden die Nürnberger Gesetze verabschiedet.
    35 Familianten, nette, anständige Leute, nicht wahr? Keine Wortmeldung, niemand. In einer halben Stunde ist die Sache erledigt. Und HG? Hätte er nicht? Doch, diesmal hätte er zu Vetter Willy Busse sagen können: »Mein lieber Willy, das machst du bitte allein. Und wenn du mich fragst, laß den Quatsch!« Wenn er aber schon Willy Busses Ansinnen vorträgt, hätte HG bei der »Dringlichkeitssitzung« sagen können: »Vetter Willy will das, ich will das nicht. Der individuelle Arier-Nachweis bedeutet in der Tat Arbeit, aber unsere Familienehre bleibt unbeschädigt.« Sagt er nicht. Er sagt tatsächlich nichts. Am Abend singen sie: »Der Mai ist gekommen, das Volk ist erwacht, und auch die Familie erhebt sich mit Macht, drum reichet die Hände euch heute auf’s Neu, heil unserem Stamme, dem Vaterlande treu.« HGs und Elses Kinder dürfen Launiges aufführen, Sohn Jochen, der ist sieben, erscheint in SA-Uniform: »Heil Hitler, sind Sie der Herr Chronist, der so fleißig im Ahnenforschen ist?«
    Für Juden verboten – vorauseilend, gehorsam. Es gibt keinen Anlaß, nichts, wozu man sich verhalten müßte. Arier-Nachweis! Den zieht Kurt blind aus seinem Archiv, fünf und mehr Generationen zurück, wenn jemand das braucht. Dringlichkeit? Hitler ist gerade vier Monate im Amt, und wenn auch die Nazis ein atemberaubendes Tempo vorlegen, kann man nicht erst mal abwarten, ehe man sich zu deren Handlanger macht ohne Not? Großer Gott, ich dachte, ich hätte meinen Ekel und meinen Zorn verbraucht in all den Jahren, mein Entsetzen über die Gleichgültigkeit, die Anbiederei – eine halbe Stunde nur hat das gedauert! Keine Wortmeldung – in HGs Tagebuch und in den von Else verfaßten Kindertagebüchern kommt der Arier-Paragraph gar nicht vor. Da findet auch die Bücherverbrennung nicht statt, die ist keine drei Wochen her. Da sind Autoren verbrannt worden, die beide gerade gelesen haben: Remarque, Döblin, Glaeser, Heine, Kästner, Kerr – geht sie das nichts an?
    Statt dessen steht in den Kindertagebüchern, wie spannend die Zeit jetzt ist »für Euch« mit den Fackelzügen und Paraden fast jeden Tag, wie festlich die vielen Fahnen aussehen, und daß die marschierenden Kolonnen begeistert die neuen Hitlerlieder singen, »die ihr schon alle auswendig könnt« – das »Sturm- und Kampfliederbuch der NSDAP« erscheint am 23. März 1933. Ein halbes Jahr später sind anderthalb Millionen davon verkauft. Else schreibt

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