Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
plötzlich Sütterlin, glaubt man das? Immer hat sie geschrieben wie ihr Vater, sich gegenüber HGs, Kurts und Gertruds deutscher Schrift mittels ihrer ausladenden lateinischen Buchstaben behauptet. Jetzt Sütterlin. Was ein Glück, daß sie so flusige Haare hat, sonst würde sie sich womöglich noch Zöpfe wachsen lassen!
Haben die alle den Verstand verloren? Was ist mit Kurt? Kurt hat erst mal mit seiner akkuraten Handschrift das Protokoll des Familientages im Chronik-Buch verewigt ohne Kommentar. Dann aber verfaßt er einen 19(!) Schreibmaschinen-Seiten langen Brief an einen Jugendfreund in Amerika und erklärt ihm die deutsche Welt. Die sei in Unordnung gewesen, solange Juden in ihr das Sagen gehabt hätten: »1928 waren allein bei den Großbanken 718 Aufsichtsratsposten durch Juden besetzt, und bei den Führern der Sozialisten und Kommunisten war ebenfalls die große Mehrzahl Juden. Juden hatten die gesamte Linkspresse in den Händen, die Universitäten waren von ihnen dominiert, 1928 waren in der philosophischen Fakultät in Göttingen 40 Prozent der Professoren Juden, in der juristischen waren es 47 Prozent. Welches Volk läßt sich auf die Dauer eine solche Vorherrschaft durch eine kleine fremdstämmige Minderheit gefallen?«
Jetzt sei die Rettung da, die »nationale Erhebung unter Führung Adolf Hitlers« habe das zerrissene und fremdbeherrschte Volk geeint, »wie 1914 loht der deutsche Volksgeist auf unter den schwarzweißroten Farben, und es kommt die Einigkeit der Deutschen kraftvoll an den Tag«. Drei Hurras für Kaiser und Vaterland – ach Kurt! Einigkeit – auch Else jubelt in den Kindertagebüchern: »Große Friedensrede Hitlers im Reichstag am 17. Mai, selbst die Sozialisten stimmen zu, wir sind ein geschlossenes Volk.« Sie weiß nicht, daß Innenminister Frick den Sozialdemokraten unverhohlen mit der Ermordung ihrer inhaftierten Genossen gedroht hat, sollte die Fraktion sich bei der Verabschiedung der Friedensresolution auch nur enthalten. Was Else hätte stutzig machen können, kommt einen Monat später: Am 22. Juni 1933 wird die SPD verboten, viele ihrer Mandatsträger verschwinden im Zuchthaus oder im KZ.
Am 10. August 1933 wird nicht Peter, sondern Sabine geboren, wieder eine Bilderbuch-Entbindung von einer knappen Stunde, die Hebamme muß angezogen geschlafen haben, um noch irgend etwas tun zu können. Nach den knappen Schilderungen dieser Geburten kann Else nur ein leichtes Ziehen gespürt haben, dann ein paar Preßwehen, und das war’s. Beneidenswert! In HGs Tagebuch ist von Peter mit keinem Wort mehr die Rede, statt dessen »große, große Freude und nachher fröhliches Laufen zum Standesamt, Zeitungen etc«. In den folgenden Tagen hält er seine Kontor-Zeiten kurz, »nach Hause« steht da und »Sabine bestaunt«.
Sie wird getauft am 14. Oktober in der Kapelle der Liebfrauenkirche in »einer sehr stimmungsvollen Feier«. Wieder schließt sich ein Festessen an für 20 Personen, nicht gerechnet die größeren Kinder, dabei wird der Schinken in Burgunder kalt, weil alles Hitler zuhören muß, der im Radio den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund begründet. Das wiederum hat mit der Genfer Abrüstungskonferenz zu tun und dem wachsenden Mißtrauen der ehemaligen Kriegsgegner hinsichtlich der Vertragstreue Hitler-Deutschlands. HG nennt die Rede »eindrucksvoll«, bei Else ist sie »fabelhaft«, und die Deutschen dürfen wieder einmal zur Volksabstimmung gehen am 12. November und gleichzeitig einen neuen Reichstag wählen. Das Ergebnis für die NSDAP ist überwältigend – 92.1 Prozent. Man konnte allerdings auch nur die Nazis wählen. Die anderen Parteien sind aufgelöst.
Sebastian Haffner beschreibt in seiner nachgelassenen »Geschichte eines Deutschen«, wie die ganze »Fassade des normalen Lebens kaum verändert stehen blieb, volle Kinos, Theater, Cafés«, das ist in Halberstadt nicht anders. Es ist mein Entsetzen, das im Nachhinein erwartet, die Erde hätte aufhören müssen, sich zu drehen. Die Menschen aber, hinter denen ich her bin, scheinen gut gelaunt. Sie wittern Morgenluft. Nicht ganz. Zweimal finde ich in HGs Tagebuch den Eintrag »trotziger Optimismus«, beide Male gab es vorher Besprechungen mit Parteigenossen. Seine Beschreibung von Sabines Taufe, die auch mit kaltem Burgunderschinken ein »langer, gemütlicher Abend bis 2 h« wird, beschließt er: »Gegensatz zwischen drinnen und draußen«. Haffner schreibt: »Den geheimen Zug von Wahnsinn, von Angst und
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