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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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wurde nur von der Befürchtung übertroffen, sie könnte einen Klöble gebären.
    Beim Zeugen von Nachwuchs waren Segendorfer nicht immer wählerisch. Es kam durchaus vor, dass der eigene Bruder auch der eigene Cousin war oder die eigene Tochter auch die eigene Schwester. Aus etlichen Familien ging ein »Klöble« hervor, ein »plumper, tumber Kerl«. Man bespuckte die Mütter solcher Kinder. Ihnen wurde nachgesagt, sie besäßen keinen Stolz und hätten ihre Väter, Söhne, Brüder verführt, weil sie   – hässlich, schamlos und faul, wie sie waren   – keine anderen Männer bekämen. Klöbles waren dafür bekannt, dass sie den lieben langen Tag Sauerampfer kauten, in der Öffentlichkeit schamlos an sich herumfummelten, mit Kuhfladen Backe-backe-Kuchen spielten. Auch stritten sie leidenschaftlich untereinander, etwa darüber, ob es Gott geben konnte, jemanden, dem noch nie einer von ihnen begegnet war, und warum niemand an sie, die Klöbles, glaubte, obwohl man ihnen doch eindeutig begegnen konnte. Und ob man ihnen wohl auch nicht mehr begegnen könnte, wenn man erst einmal an sie glauben würde. Der Inzest hatte aber noch eine andere Nebenwirkung; er trug dazu bei, dass Segendorf unsichtbar blieb, verborgen hinter einer Mauer, die niemals errichtet worden war: Jeder, der wollte, konnte Segendorf sehen und betreten. Aber niemand wollte es sehen. Und betreten schon gar nicht.
    Unabhängig von ihrer Angst, einen Klöble zu bekommen, würde Jasfe natürlich auch ein solches Kind lieben, das sagte sie sich und Josfer ihr, aber ein vollkommen gesundes Kind war einfacher zu lieben.
    Fünf Monate lang wickelte sie ein Tuch fest wie ein Korsett um ihren Bauch und ertrug die Schmerzen. Erst dann nahm sie sich vor, ihrem Vater die Schwangerschaft zu beichten. Die geeigneten Worte für ein solches Geständnis wählte sie mit Bedacht und legte sich über Tage hinweg einen Satz nach dem nächsten zurecht, bis sie fand, dass der passende Zeitpunkt gekommen war.
    Josfer überprüfte Krötenfallen im Moor, als Jasfe neben Nick auf der Holzbank vor ihrem Haus Platz nahm. Im Abendlicht pulte ihr Vater mit einem Weidemesser Dreck unter seinen Fingernägeln hervor und pfiff eine melancholische Melodie. Jasfe fasste sich ein Herz und sprach ihren ersten Satz. Sie sprach ihren zweiten Satz. Sie sprach ihren dritten und vierten und fünften Satz. Und nachdem sie ihren letzten Satz gesprochen hatte, wartete sie. Gefasst legte Nick das Weidemesser beiseite, presste die Lippen aufeinander, atmete tief ein und packte sie am Hals. Erst jetzt machte sie winzige Tränen in seinem Gesicht aus. Stumm erhöhte Nick den Druck. Schwarze Flecken sprenkelten ihre Sicht, vervielfachten sich, wuchsen zusammen, und sie fiel in ein leeres Dunkel.
    Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, lag sie allein im Schlamm vor der Holzbank, und später am Abend gelang es ihr nicht, die lilablassblauen Flecken an ihrer Kehle vor ihrem Bruder zu verbergen.
     
    Vom nächsten Jagdausflug mit seinem Vater kehrte nur Josfer zurück.
     
    Nick wurde nie gefunden, und die Zwillinge sprachen nie darüber, was im Hochmoor vorgefallen war. Im Ort hieß es, Nick sei im Treibsand erstickt, und da er in Segendorf unbeliebt gewesen war, zweifelte niemand daran.
    Von da an teilten meine Eltern jede Nacht das Bett miteinander. Bald konnten sie nur dann Schlaf finden, wenn sie nackt nebeneinander lagen und ihre Hand auf dem Geschlecht des anderen ruhte. Die Hände des anderen waren ein tröstender Schutz, vertraut und undurchdringlich.

Klöble
     
    Ich kam an einem verregneten Tag im Mai 1913 zur Welt. Meine Eltern konnten sich lange auf keinen Namen einigen, also wählten sie einen, der sie an ihren eigenen erinnerte: Julius. Bei meiner Geburt stieß ich nur einen einzigen Schrei aus, gedehnt und erbost. Danach blieb ich ruhig, strampelte nur noch für eine Weile und fuchtelte mit den Armen. Die Hebamme sorgte sich schon, dass ich ersticken könnte, aber sie begriff nicht, dass ich einfach unbeeindruckt war von der Welt, in die ich geschlüpft war.
    Drei Jahre später, bei der Geburt meiner Schwester Anni, die mit dem Namen ihrer Großmutter getauft wurde, war das Gebrüll schrill und hielt stundenlang an, bis Anni erschöpft, zusammen mit unseren ebenso erschöpften Eltern, einschlief.
    Schon als Kind fiel meine hohe Stirn flach ab, und die Augen lagen für meinen Geschmack zu tief in den Augenhöhlen,
aber meine Mutter meinte, dass man nach ihnen greifen wolle, so verlockend

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