Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
spüren konnte.
Miranda lag auf Händen und Knien im Wasser neben Gin und keuchte. Ihre Bibliothekarsuniform war dreckig, und ihre Haare hingen wie rotes Seegras nass über ihren Rücken. Sie war durchnässt und zitterte, ihre Augen waren dumpf und müde, aber sie war noch nicht geschlagen. Sie kauerten in einem kleinen Kreis, Josefs und Nicos Kopf auf Gins Pfoten, damit sie nicht in dem flachen Wasser ertranken, das über die Reste des Marmorbodens schwappte. Die Tatsache, dass Gin damit einverstanden war, zeigte, wie ernst die Situation war. Einen halben Meter über ihnen, außerhalb der schützenden Glocke, die Miranda durch ihren geöffneten Geist schuf, bewegte sich die Wand aus schwarzem Wasser in bedrohlichen Mustern.
Mellinor umgab sie auf allen Seiten, und seine mächtige Strömung drang stetig auf die dünne Blase ein. Jedes Mal, wenn das Wasser zuschlug, fühlte sie sich, als würde ihr Geist in dieser endlosen, unermüdlichen Macht ertrinken. Jedes Mal stand sie kurz vor einem Zusammenbruch, aber jedes Mal fing sie sich wieder und hielt ihre kleine Blase noch ein wenig länger aufrecht, bevor die nächste Welle brach und der Kampf von vorne begann.
In den kurzen Pausen zwischen den Angriffen fragte sich der kleine, mürrische Teil ihres Geistes, der noch an etwas anderes denken konnte als an das nackte Überleben, warum sie sich überhaupt die Mühe machte.
Zu Beginn hatte sie sich wacker geschlagen. Nachdem Eli gefallen war, hatte sie es eine Weile geschafft, Schlag um Schlag zu erwidern. Der Große Geist war mächtig, aber seine lange Gefangenschaft hatte ihn langsam und schwach zurückgelassen. Doch je länger er in Mondlicht und frischer Luft existierte, desto mehr erholten sich seine Kräfte. Während er an Stärke gewann, erschöpfte Miranda die ihre. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, hatte der Große Geist sie zurückgedrängt, bis er sie völlig überschwemmt hatte. Jetzt, gefangen in dieser Blase, in der die Luft immer knapper wurde, konnte sie nichts anderes tun, als immer die nächste Welle zu überleben. Natürlich, so murmelte der mürrische Teil, bedeutete Überleben in diesem Fall nicht gewinnen. Sie war sich nicht einmal sicher, wie ein Sieg in so einem Kampf aussehen sollte. Selbst wenn sie stärker gewesen wäre, widerstandsfähiger, selbst wenn sie nicht gefangen wäre – ihr Feind war der Große Geist eines Binnenmeeres. Sie konnte ihn genauso wenig besiegen, wie man einen Berg besiegen konnte.
Warum also aushalten?, flüsterten ihre Zweifel. Welche Hoffnung hatte sie schon? Es war keine Hilfe unterwegs, es gab keinen Ritter in schimmernder Rüstung, der sie retten würde. Selbst wenn sie es schaffen sollte, eine Nachricht an den Geisterhof zu schicken – der einzige Magier, der stark genug war, um eine Chance gegen Mellinor zu haben, war Meister Banage. Und er hätte seine Seele nie einem Großen Geist entgegengeworfen, nicht einmal, um sie zu retten. Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus, und Miranda unterdrückte ein Schluchzen. Fast wäre sie aus dem Takt gekommen, als die nächste Welle brach. Während sie darum kämpfte, ihre kleine Luftblase zu bewahren, wurde ihr bewusst, dass Meister Banage ihr nie verzeihen würde, dass sie gegen einen Großen Geist gekämpft hatte. Insbesondere, da sie es getan hatte, um zwei steckbrieflich gesuchte Verbrecher und eine Dämonenbrut zu beschützen. Vielleicht wäre es besser für alle, wenn sie ihren Schild einfach senkte und zuließ, dass das Wasser sie davontrug.
»Konzentriere dich.« Gins barsche Stimme erklang direkt neben ihrem Ohr, aber sein Knurren war in diesem Moment das Schönste, was sie je gehört hatte. »Große Geister mögen ja alt und protzig sein, aber trotzdem sind sie Geister. Die Stärke ihrer Seelen wird von ihrer physischen Form begrenzt. Deine Stärke, die Stärke eines Magiers, ist nur von deinem Willen beschränkt. Das ist das Geheimnis, das ich in der Steppe gelernt habe, als ich mich dazu entschloss, dir zu folgen.« Er drückte seine nasse Schnauze an ihren Rücken. »Ich werde dir den Rücken decken, Herrin, also lass nicht zu, dass dein Wille ins Wanken gerät.«
Miranda drehte sich um, umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht im rauhen Pelz seiner langen Schnauze. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Die Wellen warfen sich härter als je zuvor gegen ihre Schutzhülle, aber Miranda hielt Schlag für Schlag dagegen, und kein Wasser drang ein. Bei jedem Misserfolg brüllte Mellinor auf, und
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