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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Schlüssel in das Schloß drückte.
    Lotuswolke gehörte eigentlich nicht zu den Frauen, die bei jeder Gelegenheit schreien, aber jetzt schrie sie wie wahnsinnig, und draußen im Garten bellten die Hunde wie verrückt. Ich kam vom Boden hoch, aber nicht auf dem Rücken eines Mannes, sondern auf dem Rücken eines fauchenden, brüllenden Tigers. Ich konnte mich in keine bessere Lage bringen. Ich hatte meine Arme um den Hals des Tigers geschlungen, die Zähne in sein Nackenfell geschlagen, und wir jagten durch das Zimmer, während Meister Li sich mit dem Schloß abmühte. Und ich bin heute nur noch am Leben, weil der Herzog von Ch'in zweifellos der dümmste Schüler des Alten vom Berg war. Nachdem er feststellte, daß er mich als Tiger nicht abwerfen konnte, verwandelte er sich in eine Schlange, dann in einen wilden Eber, darauf in eine riesige Spinne, während ich die ganze Zeit betete: »Himmlischer Jadekaiser, lösche in diesem Dummkopf jede Erinnerung an Skorpione aus!« Ich konnte beinahe spüren, wie der tödliche Schwanz sich krümmte, um mich wie einen Käfer aufzuspießen. »Lösche in seinem Kopf alle Gedanken an Stachelschweine, Kakteen, Treibsand und fleischfressende Pflanzen!« Ich weiß nicht, ob der Jadekaiser etwas damit zu tun hatte oder nicht, aber der Herzog las in diesem Augenblick meine Gedanken eindeutig nicht, denn er verwandelte sich gehorsam in ein riesiges Krokodil. Leider schleuderte der peitschende Schwanz Li Kao unter einen schweren Tisch, der auf ihn stürzte, und Kästchen und Schlüssel sausten wie Kreisel über den Boden. Ich spuckte Tigerfell, Schweineborsten, Spinnenhaare und Krokodilschuppen aus. »Lotuswolke, öffne das Kästchen!« schrie ich.
    Der Herzog von Ch'in verwandelte sich in einen riesigen Affen. Wir rasten durch das Zimmer, während Lotuswolke mit angstgeweiteten Augen langsam hinunter nach dem Kästchen zu ihren Füßen griff. Jetzt verwandelte sich der Herzog in einen großen Stein. Wir schlugen dumpf auf den Boden, und das riesige schwere Ding rollte langsam über mich. Ich rang nach Luft, plötzlich tauchten in dem Stein ein paar rot geränderte Schlüsselhasenaugen auf. Schlüsselhasenlippen öffneten sich, und ein Stück Stein zuckte wie eine lange Nase.
    »Ich kann schwerer werden«, kicherte der Herzog, »schwerer und schwerer.«
    Alle Luft wurde mir aus dem Leib gepreßt, und meine Rippen knirschten. Ich sah, wie Li Kao mit dem schweren Tisch kämpfte und Lotuswolke wie betäubt versuchte, den Schlüssel in das Schloß zu drücken. Sie streckte die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, und sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal versucht, einen Faden in die Nadel zu fädeln. Über mir glitzerten die rot geränderten Augen. Dann erkannte ich, daß die nackte Angst den Herzog an den Rand des Wahnsinns trieb, wie es schon so oft in der Vergangenheit geschehen war.
    »Ich werde dich und den alten Mann in einen Käfig neben mein Bett hängen«, flüsterte er, »meine lieben Freunde shan hsiao werden euch mit den Krallen und den Schnäbeln zerfleischen. Euer Fleisch wird nachwachsen, die Krallen und Schnäbel werden euch wieder zerfleischen, eure Schreie werden mich nachts in den Schlaf wiegen, und so werdet ihr die Ewigkeit verbringen.«
    Ich bekam keine Luft mehr. Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen, und das Herz klopfte mir schmerzhaft in den Ohren. Der Stein wurde schwerer und schwerer. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen.
    Lotuswolke schrie auf. Sie schrie so durchdringend, daß eine dünne Porzellanschale zerbrach. Das offene Kästchen fiel zu Boden, und vor ihren Füßen lag ekelerregend ein feuchtes, pochendes Herz. Im nächsten Augenblick war der Stein zum Schlüsselhasen geworden, und er versuchte verzweifelt, sein Herz zu erreichen. Ich klammerte mich mit letzter Kraft an seine Beine. Er heulte vor Angst, als er mich langsam über den Fußboden schleppte. Der Schlüsselhase streckte die Hand aus, und Lotuswolke starrte ihn mit entsetzten Augen an. Dann griff dieses wunderbare Mädchen hinunter, hob das schleimige Ding vor ihren Füßen auf und warf das Herz wie ein echtes Bauernmädchen, das der Schrecken aller Krähen gewesen war, quer durch das Zimmer, und es flog in hohem Bogen aus dem offenen Fenster in den Garten. Die rasenden Wachhunde stürzten sich auf das Herz ihres Herrn.
    Der Schlüsselhase stand reglos da. Dann drehte er sich langsam nach seiner Frau um, streckte die Hand mit einer seltsam zärtlichen Geste nach ihr

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