Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
aus und öffnete den Mund. Ich werde nie erfahren, was er sagen wollte; das Fleisch verschwand vom Gesicht des Tyrannen, der China seinen Namen gegeben hatte. Ich starrte auf die blanken, weißen Knochen eines Schädels, und dann zerfielen auch die Knochen zum Staub der Jahrhunderte. Ein leeres Gewand sank langsam durch die Luft und lag schlaff auf dem Boden.
Es gelang mir, hinüberzukriechen und Li Kao von dem Tisch zu befreien. Er richtete sich schwankend auf und stürzte sich auf den Weinkrug.
»Die Yamakönige haben lange gewartet, und ich könnte mir denken, daß dem Herzog von Ch'in in der Hölle ein warmes Willkommen bereitet wird«, sagte er, als er den Krug zum Luftholen absetzen mußte.
Meister Li reichte ihn mir. Ich nahm einen großen Schluck und gab ihn an Lotuswolke weiter, die einen Zug hatte wie ein Landsknecht. Das Staunen trat an die Stelle des Entsetzens. Ihre großen Augen leuchteten voll Verwunderung. Meister Li ging zu dem Gewand auf dem Boden hinüber. Er bückte sich, griff hinein, und seine rechte Hand brachte eine kleine goldene Krone zum Vorschein. »Kann es einen besseren Platz geben, um den größten aller Schätze aufzubewahren, als das Loch, in dem einmal das Herz gewesen war?« sagte er.
Er hob die linke Hand, und ich stieß einen lauten Freudenschrei aus, als mir ein unglaublich starker Ginsengduft in die Nase stieg. Er war so intensiv, daß er mich augenblicklich belebte. »Meister Li, ist die Suche nun zu Ende?« fragte ich. »Noch nicht ganz«, warnte er, »dies ist tatsächlich das Herz der Großen Wurzel der Macht, doch wir dürfen nicht vergessen, daß es auch die Ginsengkönigin ist. Man darf Ihre Majestät niemals zwingen. Wenn sie den Kindern von Ku-fu helfen soll, muß sie es aus freien Stücken tun, und wir müssen ihr Patenkind bitten, uns ihre Wünsche zu übermitteln.«
Meister Li faltete die Hände und verbeugte sich tief vor Lotuswolke.
»Womit ich Eure Hoheit, die Prinzessin der Vögel meine«, sagte er. Lotuswolke starrte ihn an, aber ihre Augen waren nicht so groß wie meine.
»Meister Li, das kann unmöglich Euer Ernst sein?« flüsterte ich. »Mir war in meinem Leben noch nie etwas so ernst«, erklärte er ruhig.
»Ich? Mit meinen dicken Beinen und dem runden Gesicht?« rief Lotuswolke. Ihr Gefühl für die Ordnung der Dinge wehrte sich, und sie lief vor Empörung rot an. »Der Sternenhirte hat sich in das schönste Mädchen der Welt verliebt!«
»Rein literarische Konvention«, erwiderte Meister Li mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Schönheit wird geradezu lächerlich überbewertet. Wenn der Sternenhirte Schönheit gesucht hätte, hätte er nur unter den jungen Göttinnen des Himmels zu wählen brauchen. Der Sternenhirte besaß genug Verstand, um ein Bauernmädchen zu lieben, in dessen Augen alle Hoffnung, alle Freude und alles Staunen der Welt lagen, und dessen Lachen einen Ochsen auf fünfzig Schritte zu Falle bringen konnte. Frag diesen Ochsen hier«, sagte er mit einem Zwinkern in meine Richtung. »Ochse, erinnere mich daran, daß ich meine Geschäftskarte ändere: Das Auge muß zu neun Zehntel geschlossen sein. Ich hätte wissen müssen, daß Lotuswolke zu den Unsterblichen gehört, als Geizhals Shen genauso auf sie reagierte wie du.«
Lotuswolke stampfte mit dem Fuß auf. »Ich weigere mich, auch nur ein einziges Wort von diesem Unsinn zu glauben«, sagte sie sehr zornig.
»Warum solltet Ihr? Der Herzog von Ch'in hat Euch zu dem Alten vom Berg gebracht, der Euch das Gedächtnis nahm«, erklärte Meister Li einleuchtend.
Er ging gemächlich zum Tisch hinüber, setzte sich und legte die kleine Krone und die Große Wurzel der Macht neben die Weinkrone. Dann klappte er eine Muschel an seinem Schmugglergürtel auf, und die drei Federn vom König der Vögel hüpften geradezu auf ihren Platz, sobald sie den Rand der Krone berührten. »Wie wahr ist doch das Sprichwort: Die Menschen sterben wie die Bäume von oben nach unten.« Meister Li seufzte. »Wenn meine armen Gehirnwindungen nicht von Holzfäule und kleinen grünen Würmern befallen gewesen wären, hätte ich vielleicht darüber nachgedacht, weshalb Geizhals Shen auf Nummer Zehn den Ochsen nicht eifersüchtig war, und Nummer Zehn der Ochse nicht auf Geizhals Shen. Keiner der Liebhaber von Lotuswolke war je eifersüchtig. Und das ist nicht menschlich, wenn wir von Liebe sprechen. Wenn wir von Anbetung sprechen, ist es etwas sehr Menschliches. Man ist auf einen Glaubensbruder nicht
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