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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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hatte schon als kleines Kind eine große Schwäche für ein spektakuläres Ende«, erklärte er nicht ohne Sentimentalität. »Gib mir deinen Becher.«
    »Meister Li, ich glaube, ich kann nicht noch mehr Wein vertragen«, erwiderte ich zitternd und starrte mit aufgerissenen Augen auf die unheimliche Festung.
    »Unsinn! Versuch, vierundvierzig tote Steinlöwen zu sagen.«
    »Vierundvierzig tote Steinlöwen.«
    »Nüchtern wie ein Konfuzianer«, stellte Meister Li fest.
    Ich konnte ihm nicht widersprechen. Wir unterhielten uns im Dialekt von Peking, in Mandarin. Und vierundvierzig tote Steinlöwen hören sich dann so an: ssu shih ssu ssu shih shih - falls man es überhaupt herausbringt. Also reichte ich ihm meinen Becher. Nicht nur ich starrte voll Entsetzen auf das Schloß des Labyrinths. Es drehte sich langsam auf seinen Fundamenten, wie von einer riesigen Hand herausgezogen. Gellende Schreie ertönten in den Straßen der größten Vergnügungsstadt auf der Welt, und Kaufleute, Zecher, Priester und Prostituierte fielen auf die Knie, fingen an zu beten und gelobten, Buße zu tun.
    Das monströse Denkmal vergänglicher Macht zerfiel! Unbezwingbare Mauern bogen sich wie Wachs, große Steinquader regneten herab wie Sandkörner. Mächtige Eisentore zerrissen wie dünnes Pergament. Die Eisentürme schmolzen zu Schlamm, und die Zugbrücken versanken in den Gräben. Der Felsen barst und riß, das Wasser aus den Gräben schoß über die Steilwand und stürzte als silberne Kaskade ins Meer. Gänge, Kerker stürzten ein und begruben für immer die schrecklichen Geheimnisse des Herzogs von Ch'in unter sich. Tief unten im Labyrinth brüllte der Tiger zum letzten Mal. Eine große Wolke aus Staub und Schutt stieg auf und schob sich vor den Mond. Stahl und Steine regneten auf die Stadt des Herzogs herab. Kleine Trümmerstücke durchschlugen das Dach und tanzten wie Trommelschlegel auf dem Tisch, der uns schützte. Ein mächtiger Windstoß fuhr vom Himmel herab, die Staubwolke verschwand, als hätte es sie nie gegeben, und ich starrte voll Staunen auf das Schloß des Labyrinths, so wie man es heute noch sieht: Trümmerberge, die sich verstreut hoch oben auf den Steilfelsen über dem Gelben Meer türmen!
    Li Kaos Augen leuchteten, und er hieb mir glücklich auf die Schulter. »Man sollte nicht traurig sei, wenn es zu einem spektakulären Ende kommt, und wenn ich mich nicht sehr irre, steht uns das eigentliche Wunder noch bevor«, sagte er. »Hörst du es?«
    Das Geräusch war zunächst sehr schwach. Dann wurde es stärker, immer stärker und voller im Klang, als der Chor anschwoll und im großen Lied der Freude mündete, als eine Million Vögel, eine Billion, eine Trillion, als jeder Vogel in China, selbst alle Vögel, die aus ihren Käfigen ausbrechen mußten, den Mond verdunkelten, als sie zu ihrer Prinzessin flogen. Die Menschen in den Straßen sprangen auf und rannten schreiend vor Entsetzen davon, als die Bäume und Sträucher sich unter dem brausenden Wind der Flügel neigten und Billionen Blüten durch die Luft wirbelten, heulende Bonzen in Blumensträuße und die flüchtende Menge in Blumengestecke verwandelten. Der große Phönix, der mächtigste von allen, führte den Zug an, und seine flammende Federkrone schoß wie ein Meteor über den Himmel. Hinter ihm flogen Adler und Albatros, die Könige der Vögel auf dem Land und im Meer. Es folgten die Eule, die Fürstin der Vögel der Nacht, und die Lerche, Fürstin der Vögel des Tages, und der Schwan, Fürst der Vögel der Flüsse, und der Kranich, Fürst der Vögel der Sümpfe, und der Papagei, Fürst der Vögel des Dschungels, und der Murmvogel, Fürst der Vögel der Stürme, und der Rabe, Fürst der Vögel mit der Gabe der Weissagung... ich will sie nicht alle aufzählen. Hahnrei Ho hätte eine Liste aufstellen können, die zwanzig Seiten lang gewesen wäre. Hinter den Führern flogen die Heerscharen, und über der Welt lag der durchdringend klare Duft von grünen Zweigen und Ästen, die sie in den Krallen trugen. Die Krone auf dem Kopf von Lotuswolke leuchtete sogar noch strahlender als die Krone des Phönix. Noch einmal stieß sie einen leisen Ruf aus, und der mächtige Falke, der Fürst der Vögel des Krieges, schwebte lautlos vom Himmel herab und landete im Garten. Er war so groß wie ein Pferd, seine Krallen blitzten wie Schwerter, und die klugen alten gelben Augen glühten wie rauchige Fackeln. Lotuswolke lief zu ihm, schlang ihm die Arme um den Hals, und legte ihre

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