Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
mächtiger Meister Li, ich bitte Euch, weiht mich in das Geheimnis der Weisheit ein! blökte er. Ein dümmliches Lächeln glitt über sein Gesicht wie verschmierte Wasserfarbe, und seine Augen erinnerten an ein paar rosa Taubeneier, die in Tellern mit gelber Wontonsuppe schwammen. Zu meiner Ehre muß ich sagen, daß ich noch nicht einmal mit der Wimper zuckte. Nimm eine große Schüssel«, sagte ich, fülle sie zu gleichen Teilen mit Tatsachen, Phantasie, Geschichte, Mythologie, Wissenschaft, Aberglauben, Logik und Blödsinn, trübe die Mischung mit bitteren Tränen, kläre sie mit schallendem Gelächter, wirf drei Jahrtausende Zivilisation hinein, brülle kan pei - das heißt »trockener Becher« - und schlucke alles. Procopius starrte mich an. Und dann bin ich weise? fragte er. Noch etwas viel Besseres«, antwortete ich, »Chinese«.«
Li Kao führte uns zurück ins Krankenzimmer und schritt langsam die lange Reihe der Betten ab. Die Erschöpfung beugte seine Schultern, und in der hellen Morgensonne wirkte seine faltige Haut beinahe transparent.
Die Kinder von Ku-fu glichen Wachspuppen. Fangs Reh war immer ein hübsches Mädchen gewesen, doch jetzt zeichneten sich die Knochen unter der glatten Haut ab. Sie war so schön wie eine Jadeschnitzerei - ohne Leben und ohne Wärme. Im Bett neben ihr lag Porzellankopf, die Tochter eines Holzfällers. Sie war ein dünnes unauffälliges Mädchen, das immer sanft und liebevoll gewesen war.
Seit sie alt genug war, um eine Nadel zu halten, hatte sie am Totengewand ihres Vaters gearbeitet, und er trug es stolz bei jedem Fest. Jetzt hatte der untröstliche Vater seine Tochter in dieses Gewand gehüllt. Porzellankopf wirkte unglaublich klein und hilflos in einem blauen Seidengewand, das ihr mindestens fünfmal zu groß war. »Langes Leben« hatte sie in Gold darauf gestickt; diese Ironie wirkte jetzt gar nicht komisch.
Die Eltern hatten neben die schlaffen Hände der Kinder ihre Lieblingsspielzeuge gelegt und saßen still und hilflos vor den Betten. Klagendes Heulen drang aus dem Dorf herauf, wo einsame Hunde nach ihren menschlichen Spielgefährten suchten. Li Kao seufzte, richtete sich auf und winkte mich zu sich. »Nummer Zehn der Ochse, ich habe keine Ahnung, ob eine Wurzel der Macht dasselbe ist wie eine Große Wurzel der Macht, und soweit ich weiß, taugt so etwas nur dazu, um es mit Leim zu mischen und Sandalen damit zu reparieren«, sagte er leise. »Zwei Dinge aber weiß ich: Jeder, der versucht, der Ahne etwas Wertvolles zu stehlen, beschwört einen unangenehmen Tod, und ich bin zu alt, um es ohne die Unterstützung einiger Muskeln zu versuchen. Ich habe deine Fünftausend in Kupfer angenommen, und du bist mein Klient. Die Entscheidung liegt bei dir.«
»Meister Li, wann brechen wir auf?« fragte ich eifrig. Ich war bereit, auf der Stelle loszurennen, doch er sah mich nachdenklich an.
»Ochse, wenn die Kinder plötzlich sterben, können wir nichts dagegen tun, und wenn das Lehrbuch recht hat, müßten sie noch Monate am Leben bleiben. Es wäre das Schlimmste, wenn wir müde und unvorbereitet an unserem Ziel ankommen würden«, erklärte er geduldig. »Ich werde mich jetzt ausruhen, und wenn du nicht schlafen kannst, wird der Abt vielleicht so freundlich sein, deine Bildung in Hinblick auf unsere Aufgabe zu erweitern. Ginseng ist sowohl die interessanteste als auch die wertvollste Pflanze der ganzen Welt.« Er gähnte und reckte sich.
»Wir müssen nach Peking zurück, um Geld mitzunehmen. Wir brechen um die erste Wache auf«, sagte er.
Li Kao begab sich im Schlafzimmer der Bonzen zur Ruhe. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so wach gewesen. Der Abt nahm mich mit in sein Studierzimmer, und was ich dort über Ginseng erfuhr, war so interessant, daß es mir beinahe eine Stunde gelang, die Kinder zu vergessen.
4.
Die Wurzel des Blitzstrahls
»Keine Heilpflanze ist so umstritten wie Ginseng«, erklärte der Abt. »Es gibt bedeutende Ärzte, die schwören, daß er nicht wirkungsvoller ist als starker Tee, und es gibt andere, die schwören auf seine Wirkung bei der Behandlung von Bleichsucht, allgemeinen Erschöpfungszuständen, Lymphdrüsentuberkulose, Magen- und Darmkatarrh, Lungen-, Nieren-, Leber-, Herzleiden und Krankheiten der Geschlechtsorgane. Vor langer Zeit, als die Pflanze noch sehr verbreitet war, bereitete man auf dem Land eine Paste aus Ginsengwurzeln, Eulenhirn und Schildkrötenfett und bestrich damit die Köpfe von Kranken, um Irrsinn zu
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