Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
heilen, oder man vermischte sie mit den zerstoßenen Geweihen von Wapitihirschen, und streute das auf die Brust von Patienten, um Tuberkulose zu heilen. Doch am merkwürdigsten ist die Haltung des berufsmäßigen Ginsengjägers, denn für ihn ist Ginseng keine Pflanze, sondern eine Religion. Es gibt wunderbare Legenden. Ginsengjäger bezeichnen die Pflanze als chaiig-diang shen, die Wurzel des Blitzstrahls«, denn man glaubt, daß sie nur an einer Stelle wächst, wo ein Blitz eine kleine Quelle ausgetrocknet hat. Nach einem Leben von dreihundert Jahren wird der grüne Saft weiß, und die Pflanze erwirbt eine Seele. Danach ist sie in der Lage, Menschengestalt anzunehmen, wird jedoch nie wirklich ein Mensch, denn Ginseng kennt keine Selbstsucht. Ginseng ist durch und durch gut. Er opfert sich bereitwillig, um denen zu helfen, die reinen Herzens sind. In menschlicher Gestalt kann er als Mann oder als eine schöne Frau auftreten, häufiger jedoch erscheint er als ein rundliches, braunes Kind mit roten Backen und lachenden Augen. Vor langer Zeit entdeckten böse Menschen, daß man ein Ginsengkind fangen kann, indem man es mit einem roten Band festbindet, und deshalb, so sagen die Jäger, ist die Pflanze heutzutage so schwer zu finden. Man hat sie gezwungen, vor den bösen Menschen davonzulaufen, und aus diesem Grund ist die Ginsengjagd eines der gefährlichsten Abenteuer auf dieser Welt. Der Ginsengjäger muß seine reinen Absichten von Anfang an unter Beweis stellen, und deshalb verzichtet er auf Waffen. Er trägt einen kegelförmigen Hut aus Birkenrinde, Schuhe aus geteertem Schweineleder und eine Ölhaut, um sich vor der Nässe zu schützen. An seinem Gürtel hängt ein Dachsfell, auf dem er sitzt, wenn der Boden feucht ist. Er hat kleine Spaten aus Knochen bei sich und zwei kleine, biegsame Messer, die völlig nutzlos sind, um sich damit zu verteidigen. Neben etwas Proviant und Wein ist dies das einzige, was er besitzt, und seine Suche führt ihn in die wildesten Berge, in die sich noch kein Mensch gewagt hat. Tiger und Bären sind seine Gefährten, und der Suchende fürchtet seltsame Wesen, die noch gefährlicher sind als Tiger - etwa die winzigen Eulen, die ihn beim Namen rufen und in den Wald des Vergessens locken, aus dem kein Mensch je zurückkehrt, oder Räuber, die grausamer sind als die wilden Bären, und die an den wenigen Pfaden lauern, um einen unbewaffneten Ginsengsucher zu ermorden und seine Wurzel zu stehlen. Wenn Ginsengsucher ein Gebiet gründlich durchforscht und nichts gefunden haben, ritzen sie in die Rinde der Bäume kao chu kua, winzige Geheimzeichen, die anderen Suchenden verraten, daß sie hier keine Zeit verschwenden müssen. Ginsengsucher würden nie auf den Gedanken kommen, sich gegenseitig zu betrügen, denn sie sind keine Konkurrenten, sondern Glaubensbrüder. An der Stelle, an der ein Fund gemacht wurde, wird ein Schrein errichtet, und andere, die daran vorbeikommen, hinterlassen Opfergaben - Steine oder Stoffstücke. Findet ein Ginsengsucher eine Pflanze, die noch nicht alt genug ist, umgibt er sie mit Stöcken, die sein Zeichen tragen. Stoßen andere auf diese Stelle, werden sie dort beten oder Geschenke zurücklassen, aber sie würden sich eher die Kehle durchschneiden, als die Pflanze selbst zu nehmen. Ein Mann, der einen Fund gemacht hat, verhält sich sehr merkwürdig.
Ein von Wind und Wetter gezeichneter, halb verhungerter, abgezehrter Ginsengsucher hat hin und wieder das große Glück, sich seinen Weg durch das dichte Unterholz zu bahnen und auf eine kleine Pflanze zu stoßen mit vier Zweigen, violetten Blüten und einem fünften Zweig in der Mitte, der die anderen überragt und den rote Beeren schmücken. Der Stengel ist dunkelrot, die Blätter sind dunkelgrün auf der Außenseite und blaßgrün auf der Innenseite. Der Mann fällt auf die Knie, und Tränen strömen ihm über das Gesicht. Er breitet die Arme aus, um zu zeigen, daß er unbewaffnet ist. Dann macht er drei Kotaus, berührt dabei jedesmal mit der Stirn die Erde und betet.
»O Großer Geist, verlaß mich nicht! Ich komme mit reinem Herzen und reiner Seele, nachdem ich mich von Sünden und bösen Gedanken befreit habe. Verlaß mich nicht. «
Dann bedeckt er die Augen und bleibt viele Minuten lang ruhig liegen. Wenn die Ginsengpflanze ihm nicht traut und sich in eine schöne Frau oder in ein kräftiges braunes Kind verwandeln und davonlaufen möchte, will der Ginsengsucher nicht sehen, wohin sie verschwindet.
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