Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
ganze Zeit, daß diese Mörder den Selbstmord nur vorgetäuscht haben?« brüllte der Abt. »Natürlich, aber man sollte vorsichtig sein, sie des Mordes zu beschuldigen. Soweit ich weiß, haben sie bis jetzt noch niemanden getötet... und ganz sicher lag das nie in ihrer Absicht«, erklärte Meister Li gelassen, »habt Ihr über das Los der Kinder von Pfandleiher Fang nachgedacht, verehrter Herr? Seine Tochter wird vermutlich sterben, aber falls sie sich wieder erholt, welch ein Leben hat sie dann zu erwarten, wenn sie erfährt, daß ihr Vater von den Dorfbewohnern in Stücke zerrissen wurde? Ihr kleiner Bruder wäre schon im Alter von fünf Jahren zu einem Leben in Schande verurteilt, und das erscheint mir doch eine Spur ungerecht. Es wird sicher hier im Dorf eine Familie geben, die sich unschuldiger Kinder annimmt und ihnen erklärt, daß ihr Vater versuchte, die Seide zu verbessern, wobei ihm allerdings ein Fehler unterlief. Deshalb ist er davongelaufen, aber ihm ist alles vergeben.«
Ich ließ den Abt wieder los, der sich vor dem Weisen verbeugte, und Großer Hong räusperte sich. »Meine Frau und ich werden Fangs Floh zu uns nehmen«, sagte er heiser, »und Reh auch, wenn sie am Leben bleibt. Sie sollen ein liebevolles Elternhaus haben.«
»Sie sind ein guter Mann«, sagte Meister Li, »und was den Pfandleiher Fang und Ma die Made angeht, warum sollen sie sich nicht selbst bestrafen? Eine solche Habgier nagt Tag und Nacht unaufhörlich an den Eingeweiden wie eine Schar Ratten, und wenn sie in die Hölle kommen, haben sie bestimmt schon alle Qualen kennengelernt, zu denen sie von den Yama-Königen vielleicht verdammt werden. Machen wir uns an die Arbeit!«
Fangs Geschäftsbücher füllten zwei große Schränke und einen Koffer, und in diesen umfangreichen Unterlagen fand der Abt den ersten Hinweis auf eine Wurzel der Macht. Wir wußten nicht, ob sie mit der Großen Wurzel der Macht identisch war. Die Bonzen entdeckten drei weitere Hinweise, doch nur einer stammte aus unserer Zeit.
»Vor dreißig Jahren wurden für dreihundert Talente der Ahne eine Wurzel der Macht verkauft. Das ist ein unvorstellbarer Preis«, sagte der Abt und blickte von den Listen auf. »Die Wurzel wird nicht wieder erwähnt, und ich nehme deshalb an, sie befindet sich immer noch im Besitz dieser werten Dame.«
Li Kao verzog das Gesicht, als habe er in eine grüne Persimone gebissen.
»Wenn ich diesem Weib unter die Augen treten würde, wäre ich zwei Sekunden später einen Kopf kürzer«, erklärte er säuerlich. Er dachte nach. »Wenn ich es mir recht überlege, wäre es ein Wunder, wenn sie mich erkennen würde. Sie kann nicht älter als sechzehn gewesen sein, als ich in den Palast des Kaisers befohlen wurde... und das ist schon mehr als fünfzig Jahre her.«
»Meister Li, ein Kaiser hat Sie rufen lassen?« fragte ich mit großen Augen. »Nicht nur ein Kaiser, aber in diesem Fall handelte es sich um den alten Wen«, sagte er, »in den sorglosen Tagen meiner Jugend habe ich ihm einmal Anteile an einer Senfmine verkauft.« Wir starrten ihn ungläubig an. »Eine Senfmine?« fragte der Abt zaghaft.
»Ich wollte eine Wette gewinnen, bei der es um die Intelligenz von Kaisern ging«, erklärte Meister Li, »als ich an den Hof gerufen wurde, nahm ich an, man würde mich dafür mit dem Tod der zehntausend Schnitte bestrafen, doch Kaiser Wen hatte etwas anderes im Sinn... merkwürdigerweise Seide. Ein paar Barbaren versuchten, das Geheimnis der Seide zu ergründen, und der Kaiser glaubte, sie könnten der Wahrheit auf die Spur kommen. Li Kao, verkaufe diesen Hunden eine Senfmine! befahl er. Es wurde zu einem meiner widerlichsten Erlebnisse.«
Li Kao drehte sich um und trabte zur Tür, und wir trotteten wie Schafe hinter ihm her zum Kloster. Ich lernte, daß Meister Li nicht nur eine Seite hatte, und hörte fasziniert zu.
»Ich mußte ihnen mit starkem Wein den Verstand vernebeln. Ich schlug jeden Morgen die Augen auf und starrte auf rotbärtige Barbaren, die in Erbrochenem lagen und schnarchten. Sie hatten die Konstitution von Ziegenböcken. Es dauerte eineinhalb Monate, ehe ich sie davon überzeugen konnte, daß Seide aus dem Samen schneeweißer Drachen gewonnen wird, die sich nur in den versteckten Höhlen der geheimnisvollen mongolischen Gletscher vermehren. Ehe sie mit dieser traurigen Information davonsegelten, besuchte mich ihr Anführer, ein Dummkopf namens Procopius. Der Wein hatte sein Aussehen keineswegs verbessert. 0 großer und
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