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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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kein Gegengift.«
    Das Gift wurde aus Tibet eingeführt. Li Kao besaß als einziger Gelehrter genügend Kenntnisse, um alte tibetanische Texte wie das Chalet Obrad zu interpretieren, und er sagte, das Exemplar des Zaria Dieb Jad sei eine ungeheure Seltenheit und vermutlich das einzige, das überhaupt noch existierte. Das Rascheln des alten Pergaments wurde nur durch die leisen Flüche von Meister Li unterbrochen. Die tibetanischen Ärzte hatten Behandlungsmethoden großartig beschrieben, doch beim Beschreiben von Symptomen versagten sie kläglich. Offensichtlich war es verboten gewesen, ein Mittel zu erwähnen, dessen einziger Zweck Mord war - möglicherweise, weil die Alchemisten, die so etwas erfanden, denselben Mönchsorden angehört hatten wie die Ärzte, erläuterte Li Kao. Ein weiteres Problem war das Alter der Texte, die so verblaßt und fleckig waren, daß man sie kaum noch entziffern konnte. Die Sonne war untergegangen und ging bereits wieder auf, als Meister Li sich tiefer über eine Seite des Jude chi, Acht Zweige der vier Prinzipien besonderer Therapien beugte.
    »Ich kann das alte Ideogramm für Stern erkennen und daneben ein völlig fleckiges Zeichen, das vielerlei bedeuten kann, unter anderem auch Weingefäß«, murmelte er vor sich hin. »Was kommt dabei heraus, wenn man die Zeichen für Stern und Weingefäß miteinander verbindet?«
    »Das Logogramm für aus trunkener Betäubung erwachen«, antwortete der Abt.
    »Richtig und trunkene Betäubung bildlich gesehen, ist eine so vage Beschreibung von Symptomen, daß es praktisch alles bedeuten kann. Das ist wirklich zum Verrücktwerden. Interessant ist jedoch, daß der vorausgehende Text Anfälle und in die Luft schlagen erwähnt«, sagte Meister Li, »kann man behaupten, daß die Kinder jetzt in einer Betäubung liegen?« Er beugte sich dicht über den Text und las laut vor.
    »Nur eine Behandlung ist wirksam, um jemanden aus einer trunkenen Betäubung zu wecken. Auch ist sie nur dann erfolgreich, wenn dem Arzt das seltenste und wirkungsvollste Heilmittel zur Verfügung steht...« Meister Li kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Neben dem alten Ideogramm für Ginseng steht ein ungewöhnlich ausgeschmücktes Zeichen, das ich als »Große Wurzel der Macht lesen würde. Hat jemand schon einmal etwas von einem Ginseng Große Wurzel der Macht gehört?«
    Das hatte niemand. Li Kao wandte sich wieder dem Text zu. »Man muß aus der Großen Wurzel eine Essenz destillieren und drei Tropfen auf die Zunge des Patienten träufeln. Die Behandlung muß dreimal wiederholt werden, und wenn man wirklich die Große Wurzel benutzt hat, wird der Patient sich beinahe augenblicklich erholen. Ohne diese Wurzel ist keine Heilung möglich...« Meister Li machte eine bedeutungsvolle Pause. »Der Patient kann zwar monatelang in der Betäubung verharren, doch es ist unmöglich, ihn daraus zu erwecken. Der Tod ist unvermeidlich.«
    »Das Gift Ku!« rief der Abt.
    Nun überprüften die Bonzen jeden Hinweis auf Ginseng, und das bedeutete, daß sie beinahe jede Seite lesen mußten, denn im Laufe der Zeit war die Pflanze für beinahe jede erdenkliche Krankheit verordnet worden. Aber es fand sich nirgends ein Hinweis auf die Große Wurzel der Macht. Wir waren in eine Sackgasse geraten. Plötzlich schlug Li Kao mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Auf zum Büro des Pfandleihers Fang im Lagerhaus!« befahl er. Er trabte die Treppe hinauf, und wir folgten ihm alle auf den Fersen. »Die Gilde der Pfandleiher vertritt das Zweitälteste Gewerbe der Welt, und ihre Aufzeichnungen sind älter als die Orakelknochen von An-yang. Die Gilde veröffentlicht Listen äußerst seltener und wertvoller Dinge, die das ungeschulte Auge übersehen könnte. Wenn es eine Große Wurzel der Macht gibt, ist sie vermutlich das Zehnfache ihres Gewichts in Diamanten wert und sieht aus wie ein Hundehaufen«, erklärte er, »ein Bursche wie Fang hat diese Listen zweifellos abonniert, und zwar in der Hoffnung, einen Erben zu betrügen, der den Wert seiner Erbschaft nicht kennt.«
    Er trabte flink den Pfad den Hügel hinunter, durch die Tür des Lagerhauses und dann geradewegs über die Stelle, wo zwei Leichen hätten liegen sollen.
    »Diese Kerle?« sagte er, als er unsere fassungslosen Gesichter sah, »oh, die haben sich schon längst aus dem Staub gemacht.« Ich packte den Abt und hielt ihn fest, doch Großer Hong und einige andere umringten den uralten weisen Mann drohend. »Soll das heißen, Ihr wußtet die

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