Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Geräusche der Stadt seien für die Ohren ihrer Bewohner ebenso leicht verständlich wie die Geräusche des Bauernhofs für die meinen. Sirren langer Stimmgabeln verriet, daß Barbiere auf Kunden warteten; Klappern von Porzellanlöffeln, die gegen Schalen geschlagen wurden, verhieß winzige Klöße in heißem Sirup, und Klirren von Kupferbechern bedeutete, daß Obstsäfte von wilden Pflaumen und süßen und sauren Holzäpfeln feilgeboten wurden. Während Meister Li seinem Ziel zustrebte, vermutete ich in meiner Unschuld, er beabsichtige, sich Geld zu verschaffen, indem er einen reichen Freund besuchte oder einen Geldverleiher, der ihm eine Gefälligkeit schuldete. Ich kann nur errötend gestehen, daß ich nicht ein einziges Mal an den Zustand der Bambushütte dachte, in der ich ihn gefunden hatte, oder daran, welche Freunde er vermutlich haben mochte. Zu meiner Überraschung bog er abrupt von der Hauptstraße ab und trottete durch eine Gasse, die nach Abfällen stank. Ratten funkelten uns mit böse glitzernden Augen an; der faulende Unrat blubberte und stank, und ich stieg nervös über eine Leiche - zumindest hielt ich sie dafür, bis ich den Atem des Kerls roch. Er war nicht tot, sondern sternhagelvoll. Am Ende der Gasse hing über einer windschiefen Holzhütte die blaue Fahne eines Weinhändlers. Später erfuhr ich, daß der Weinladen des Einäugigen Wong in ganz China berüchtigt war. Doch damals fiel mir lediglich auf, daß es in dem niedrigen, dunklen Raum vor Fliegen und Ungeziefer wimmelte und daß ein Schurke, an dessen angefressenen Ohrläppchen ein Jadeohrring baumelte, mit der Ware nicht zufrieden war. »Ihr Pekinger Schwächlinge nennt diese wäßrige Pisse Wein?« brüllte er, »bei uns in Soochow machen wir Wein, der so stark ist, daß er dich einen Monat umwirft, wenn dich nur jemand anhaucht, der ihn getrunken hat!«
Der Einäugige Wong drehte sich nach seiner Frau um, die das Zeug hinter der Theke mischte.
»Wir müssen mehr roten Pfeffer hineintun, mein Täubchen.«
»Oh, zweihundertzweiundzwanzigfaches überirdisches Unheil!«
jammerte Fette Fu: »Wir haben keinen roten Pfeffer mehr!«
»In diesem Fall, o Licht meines Daseins, nehmen wir statt dessen die Magensäure verendeter Schafe«, beruhigte sie der Einäugige Wong.
Der Schurke mit dem Ohrring riß einen Dolch aus der Scheide, taumelte durch den Raum und stieß damit wild in die Luft. »Ihr Pekinger Schwächlinge nennt diese Dinger Fliegen?« grölte er, »bei uns in Soochow haben wir Fliegen, die so groß sind, daß wir ihnen die Flügel stutzen, sie vor den Pflug spannen und als Ochsen benutzen!«
»Vielleicht würden ein paar zerquetschte Fliegen das Bouquet abrunden«, sagte der Einäugige Wong nachdenklich. »Dein Genie ist unübertrefflich, o edler Hengst der Schlafkammer, aber Fliegen sind zu riskant«, sagte Fette Fu, »sie könnten das berühmte Aroma zerstampfter Kakerlaken überdecken.« Der Schurke hatte an Meister Li etwas auszusetzen: »Ihr Pekinger Schwächlinge nennt solche Zwerge Männer?« trompetete er, »bei uns in Soochow gibt es Männer, die sind so groß, daß die Wolken ihre Köpfe streifen, wenn sie mit beiden Beinen auf der Erde stehen!«
»Wirklich? In meinem bescheidenen Dorf«, sagte Meister Li liebenswürdig, »gibt es Männer, die sind so groß, daß die Oberlippe die Sterne netzt, während die Unterlippe die Erde berührt.« Der Schurke dachte darüber nach. »Und wo ist ihr Körper?«
»Sie sind wie du«, sagte Meister Li, »... nur ein einziges großes Maul.«
Seine Hand schoß nach oben, eine Klinge blitzte, Blut schoß hervor, und er steckte ruhig den Ohrring des Schurken zusammen mit dem Ohr, das daran hing, in seine Tasche. »Ich heiße Li, mein Vorname ist Kao, und ich habe einen kleinen Charakterfehler«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung, »dies ist mein geschätzter Klient Nummer Zehn der Ochse, der dir gleich mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf hauen wird.«
Ich wußte nicht genau, was ein stumpfer Gegenstand war, doch die Peinlichkeit, fragen zu müssen, blieb mir erspart, denn der Schurke setzte sich an einen Tisch und begann zu heulen. Li Kao begrüßte Einäugigen Wong mit einem unanständigen Witz, kniff Fette Fu in den mächtigen Hintern und bedeutete mir, mich zu ihnen an einen Tisch zu setzen, auf dem ein Krug Wein stand, der nicht eigener Herstellung war.
»Ochse, mir scheint, deine Bildung läßt in gewissen grundlegenden Aspekten menschlichen Umgangs
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