Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
doch Ho Wen war entschlossen, den Text zu entziffern, oder bei dem Versuch zu sterben. Mit vor Stolz gerötetem Gesicht führte er uns in seinen Arbeitsraum und zeigte uns die winzigen Tonfragmente. Er erklärte uns die Theorien der mathematischen Wahrscheinlichkeit, die er aufgestellt hatte, um eine Reihenfolge der Zeichen in dem alten Text zu finden.
Er hatte bereits sechzehn Jahre daran gearbeitet und zehn ganze Sätze entziffert. Und wenn er sechzehn weitere Jahre leben würde, hoffte er, vier vollständige Absätze enträtselt zu haben. Etwas konnte er bereits mit Sicherheit sagen: Es handelte sich um ein Märchen oder eine Geschichte über Ginseng, und es war eines der ältesten, das die Menschheit kannte.
Ho Wen besaß kein eigenes Geld. In meiner Unschuld glaubte ich, sein Rang als Gelehrter sei mehr wert als Geld, aber ich konnte mich bald vom Gegenteil überzeugen. Ich vermute, die Reichen aller Länder gleichen sich darin, daß Geld ihr einziger Wertmaßstab ist; bezeichnete man Ho Wen vielleicht als Meister Ho? Als den Ehrwürdigsten Gelehrten Ho? Als den Zweitgelehrtesten-Aller-Sterblichen Ho? Nein, das nicht gerade. Man nannte ihn Hahnrei Ho, und er lebte in Angst und Schrecken vor der Ahne, seiner Frau, ihren sieben dicken Schwestern und seiner Tochter. In einem großen Haus rangiert ein armer Gelehrter nur wenig über dem Mann, der die Nachtschüsseln leert.
Zwischen Hahnrei Ho und seiner Tochter bestand keinerlei Ähnlichkeit. Meine künftige Braut war ein auffallend hübsches Mädchen und hieß Jungfer Ohnmacht. Ich nahm an, dieser ungewöhnliche Name stamme aus einem Gedicht, doch bei unserem ersten Spaziergang durch die Gärten unter der Obhut von Li Kao und ihrem Vater wurde ich eines Besseren belehrt.
»Lauscht!« rief Jungfer Ohnmacht, blieb auf dem Pfad stehen und hob dramatisch den Finger. »Ein Kuckuck!«
Nun ja, ich bin auf dem Land aufgewachsen.
»Nein, mein Herz«, erwiderte ich lachend, »es ist eine Elster.« Sie stampfte mit ihrem hübschen Fuß auf. »Es ist ein Kuckuck!«
»Teuerste, die Elster ahmt den Kuckuck nach«, erklärte ich ihr und wies auf die Elster, die einen Kuckuck nachahmte. »Es ist ein Kuckuck!«
»Du Licht meines Lebens«, seufzte ich, »es ist eine Elster.« Jungfer Ohnmacht wurde rot, wurde blaß, griff sich an die Brust, schwankte und piepste: »Oh, du bist mein Tod.« Dann taumelte sie rückwärts, wankte nach links und sank anmutig zu Boden.
»Zwei Schritte zurück, sechs nach links«, seufzte ihr Vater. »Ändert sich das nie?« erkundigte sich Li Kao mit wissenschaftlichem Interesse.
»Nicht einen einzigen Inch. Genau zwei Schritte rückwärts und sechs nach links. Und jetzt, mein lieber Junge, wird von dir erwartet, daß du niederkniest, ihre zarten Schläfen benetzt und für deine unverzeihliche Grobheit um Vergebung bittest. Meine Tochter«, erklärte Hahnrei Ho, »irrt sich nie. Ich sollte vielleicht hinzufügen, daß ihr auch noch nie etwas verweigert wurde, was sie sich gewünscht hat.«
Ziehen einige meiner geschätzten Leser vielleicht eine Geldheirat in Erwägung? Ich kann mich noch sehr gut an einen goldenen Nachmittag erinnern, an dem der Kammerdiener mich in der Etikette eines großen Hauses unterwies, während Hahnrei Hos geliebte Frau und ihre sieben dicken Schwestern im Garten der Dreißig Duftenden Düfte Tee tranken, Jungfer Ohnmacht in der Halle der Preisgekrönten Pfauen sich über die »Dummheit« ihrer Hofdamen empörte, und die Ahne einen Diener tadelte, der auf der Terrasse der Sechzig Seligkeiten eine Tasse hatte fallen lassen.
»Der Koch reicht dem Gast einen Löffel mit einem geschnitzten Stiel und einem Ständer, der westlich der Dreifüße plaziert wird«, erklärte der Kammerdiener. »Der Gast umfaßt mit der rechten Hand und nach innen gewendeter Handfläche den Stiel des Löffels und legt ihn neben den Ständer.«
»Kopf ab!« brüllte die Ahne.
»Danach«, fuhr der Kammerdiener fort, »blickt er im Westen der Dreifüße nach Osten, um die Speisen entgegenzunehmen, die ihm zustehen, und das wiederum richtet sich nach seiner Kleidung, angefangen bei dem Standesschirm, den seine Diener tragen.«
»Plapper-plapper-plapper-plapper-plapper«, gackerten Hahnrei Hos Frau und die sieben dicken Schwestern.
»Die Schirme der Beamten ersten und zweiten Ranges haben gelblich-schwarze Gazebespannung, ein rotes Rohseidenfutter, silberne Spitzen und sind dreifach. Die Schirme der Beamten dritten und vierten Ranges sehen genauso
Weitere Kostenlose Bücher