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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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geschlafen hatte, denn jedesmal, wenn er die Augen schloß, sah er das Gesicht von Leuchtender Stern vor sich. Als ich am Abend nach Hause zurückkehrte, legte ich dem Tanzmädchen eine Goldkette um den Hals, an der als Zeichen der Liebe des Hauptmanns ein wunderschöner Jadeanhänger hing... Bin ich nicht ein Wurm?« fragte Hahnrei Ho. »Ich besaß so wenig Stolz, daß ich für die Frau, die ich liebte, sogar den Kuppler spielte. Für mich zählte nur ihr Glück, und ich ging ganz systematisch ans Werk. Ich entdeckte, daß es zwei kurze Zeitspannen gab, in denen der Gang zwischen den Mauern unbewacht blieb: Bei Sonnenuntergang, wenn die Wachen ihren Dienst beendeten, warteten die Männer in den Zwingern ein paar Minuten, um sicherzugehen, daß sich niemand mehr draußen befand, ehe sie die Hunde losließen. Und bei Sonnenaufgang warteten die Wachen ein paar Minuten, ehe sie den Gang betraten, um sicherzugehen, daß alle Hunde eingesperrt waren. Am Nordende gab es eine kleine Tür in der inneren Mauer. Ich stahl den Schlüssel und überreichte ihn meinem Tanzmädchen. Am Abend bei Sonnenuntergang gab ich wie verabredet das Zeichen, daß der Gang frei war; der junge Hauptmann kletterte über die äußere Mauer, überquerte den Gang, und Leuchtender Stern öffnete ihm die Tür. Bei Sonnenaufgang kehrte er auf dieselbe Weise in die Festung zurück.
    Beinahe einen Monat lebte sie im Himmel. Ich lebte natürlich in der Hölle, aber das hatte, relativ gesehen, wenig zu bedeuten«, erzählte Hahnrei Ho. »Dann hörte ich eines Abends einen markerschütternden Schrei. Ich rannte zur Mauer, wo Leuchtender Stern verzweifelt an der Tür zog und zerrte. Sie hatte die Tür gerade geöffnet, als jemand gekommen war und sie sich verstecken mußte. Und als sie wieder zur Tür zurückgekommen war, mußte sie entdecken, daß jemand abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen hatte. Ich lief so schnell ich konnte zu den Zwingern, denn ich wollte versuchen, die Männer daran zu hindern, die Hunde loszulassen, doch ich kam zu spät. Die schreckliche Meute stürmte bellend den Gang entlang. Der junge Hauptmann konnte zwar viele umbringen, doch es gelang ihm nicht, alle zu töten. Während Leuchtender Stern verzweifelt an der Tür zerrte und zog, mußte sie mit anhören, wie der Hauptmann von den Hunden zerfleischt wurde. Das konnte sie nicht ertragen. Ich rannte zurück und mußte entdecken, daß mein schönes Tanzmädchen sich in einen alten Brunnen an der Mauer gestürzt hatte.
    Es war kein Unfall gewesen. Man wußte in der Festung, daß der Hauptmann sich nachts davonschlich, und keinem, der den Schwerttanz miterlebt hatte, war das Leuchten in seinen Augen entgangen. Die Freude, die sich in den Augen von Leuchtender Stern spiegelte, war unübersehbar, und so wußte jeder, daß der junge Hauptmann eine Möglichkeit gefunden hatte, den Gang zu durchqueren. Aber wer konnte so grausam gewesen sein, die Tür zu verschließen und den Schlüssel abzuziehen? Es war Mord an zwei unschuldigen jungen Menschen...«
    Hahnrei Ho begann wieder zu weinen, und es dauerte beinahe eine Minute, bis er weitersprechen konnte.
    »Leuchtender Stern wollte vielleicht sterben, aber ihr Schicksal war weit schlimmer«, schluchzte er. »Ihre Sehnsucht nach dem jungen Hauptmann war so groß, daß sie selbst im Tod noch versuchen muß, rechtzeitig durch die Tür zu ihm zu gelangen, aber natürlich kann sie das nicht. In der nächsten Nacht kehrte ich zu dem Brunnen zurück, in dem sie sich das Leben genommen hatte, und mußte entdecken, daß mein schönes Tanzmädchen in einem Geistertanz gefangen war. Nun fürchte ich, daß sie die Qualen der Verdammten bis in alle Ewigkeit erdulden muß.«
    Li Kao sprang auf und klatschte laut in die Hände. »Unsinn!« sagte er, »es hat noch keinen Geistertanz gegeben, und es wird auch keinen geben, dessen Bann man nicht lösen kann. Ho, bring uns an den Ort der Tragödie, du, ich und Nummer Zehn der Ochse werden uns dieser Sache sofort annehmen.« Es war beinahe die dritte Wache, die Geisterstunde, als wir im Mondlicht durch den Garten gingen. Der Wind seufzte traurig in den Zweigen, und in der Ferne heulte ein einsamer Hund. Eine Eule flog wie ein fallendes Blatt über das Gesicht des Mondes. Wir erreichten die Mauer, und ich sah, daß man die Tür entfernt und die Öffnung zugemauert hatte. Der alte Brunnen war mit einem Deckel geschlossen, und auf dem Pfad wuchs das Unkraut.
    Li Kao wandte sich an mich. »Ochse, hat man

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