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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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dich gelehrt, Geister zu sehen?« fragte er ruhig.
    Ich wurde feuerrot. »Meister Li«, erwiderte ich bescheiden, »in meinem Dorf macht man die jungen Leute mit der Welt der Toten erst bekannt, wenn sie gebildet genug sind, die Lebenden zu achten. Der Abt glaubte, ich könnte vielleicht nach der Herbsternte zur Einweihung bereit sein.«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte er zuversichtlich, »die Welt der Toten ist ungeheuer kompliziert, aber Geistersehen ist die Einfachheit selbst. Richte deinen Blick auf die Mauer, dorthin wo früher die Tür war. Sieh gut hin, und zwar so lange, bis du etwas Seltsames entdeckst.«
    Ich starrte, bis mir die Augäpfel schmerzten.
    »Meister Li, ich sehe etwas, das mich verwirrt«, flüsterte ich schließlich. »Dieser schwache Schatten über dem Rosenstrauch kann unmöglich von den Zweigen geworfen werden oder von den Wolken, die über den Mond ziehen. Woher kommt er?«
    »Ausgezeichnet«, erwiderte Meister Li, »du siehst einen Geisterschatten. Ochse, hör gut zu, denn das, was ich dir sagen möchte, wird töricht klingen, ist es aber nicht. Wenn du einen Geisterschatten siehst, mußt du begreifen, daß der Tote dir etwas zu zeigen versucht. Du mußt dir den Schatten als etwas vorstellen, das so weich und angenehm ist wie eine Decke, in die du dich gerne hüllen würdest. Es ist ganz einfach. Beruhige deinen Herzschlag, denke an nichts anderes als an eine angenehme Decke. Dann greife in Gedanken danach, zieh sie an dich und dann über deinen Kopf. Sachte... sachte... sachte... Nein, du gibst dir zu große Mühe. Es erfordert überhaupt keine Anstrengung. Denk nur an die Wärme und an das Wohlbehagen. Sachte... sachte... sachte... Gut. Jetzt sag mir, was du siehst.«
    »Meister Li, die vermauerte Stelle ist verschwunden, und die Tür ist wieder in der Mauer«, flüsterte ich. »Sie steht offen, der Deckel vom Brunnen ist verschwunden, und der Pfad ist frei von Unkraut.«
    Und so war es, obwohl ich es mehr wie ein Bild mit einem verschwommenen Rahmen sah, das am Rand meines Blickfeldes schwankte. In der Ferne hörte ich schwach, wie der Wächter dreimal mit dem Holzklöppel schlug, und wir drei saßen im Gras neben dem Pfad. Hahnrei Ho streckte die Hand aus und preßte meine Schulter.
    »Mein lieber Junge, du wirst gleich etwas sehr Schönes sehen, und du wirst lernen, daß es eine Schönheit gibt, die einem das Herz brechen kann«, sagte er leise.
    Über uns funkelte der große Fluß der Sterne wie ein diamantenes Halsband am schwarzen samtenen Hals des Himmels. Auf den Zimtbäumen glitzerte der Tau, und die hohe Steinmauer schien in Silber getaucht zu sein. Bambusrohre reckten sich wie lange Finger, die sich im sanften Windhauch wiegten und auf den Mond deuteten. Eine Flöte begann zu spielen, aber eine solche Flöte hatte ich noch nie gehört. Die wenigen Töne ertönten immer und immer wieder, leise und traurig jedoch mit kaum merklichen Variationen in Tonlage und Klang, und so schien jeder Ton in der Luft zu beben wie ein Blütenblatt. Ein seltsam flackerndes Licht bewegte sich langsam zwischen den Bäumen. Ich hielt den Atem an.
    Ein Geist tanzte zu dem hypnotisierenden Rhythmus der Flöte auf uns zu. Leuchtender Stern war so schön, daß ich glaubte, eine Hand drücke mir das Herz zusammen, und ich konnte kaum noch atmen. Sie trug ein langes weißes Gewand, das mit blauen Blumen bestickt war, und sie tanzte mit unbeschreiblicher Anmut und Zartheit den Pfad entlang. Jede Geste ihrer Hände, jede Bewegung ihrer Füße, jedes weiche Schwingen ihres Gewandes schenkte dem Wort Vollkommenheit eine Bedeutung. Aber in ihren großen Augen lag Verzweiflung.
    Li Kao beugte sich vor. »Dreh dich um«, flüsterte er. Die Tür schloß sich. Sie schloß sich sehr langsam, doch gerade eine Spur schneller, als Leuchtender Stern tanzte. Und nun begriff ich: Die Musik war eine Kette, die das Tanzmädchen fesselte. In ihren Augen spiegelten sich Todesqualen, als sie zusah, wie die Tür sich allmählich schloß, und zwei Geistertränen rannen ihr wie durchsichtige Perlen über die Wangen.
    »Schneller«, betete ich stumm. »Du mußt schneller tanzen!« Aber das konnte sie nicht. An einen Rhythmus gefesselt, den sie nicht brechen konnte, schwebte sie wie eine Wolke auf uns zu. Ihre Füße berührten kaum die Erde, und sie drehte sich mit vollkommener Anmut und erschütternder Sehnsucht. Arme, Hände und das lange, fließende Gewand beschrieben Figuren, die so zart waren wie Rauch, und selbst die

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