Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
verbrecherischen Glücksrittern hat meine schlechten Gewohnheiten verstärkt, die Augen zu rollen, zu sabbern, im unpassenden Moment zu kichern, mir mit ungewaschenen Fingern im Mund zu bohren. Ich bezweifle, daß sie deine Gesellschaft suchen wird. Du brauchst dir nur Gedanken über deine Verlobte, ihren Vater und den Kammerdiener zu machen.«
Mein künftiger Schwiegervater stellte sich als einer der liebenswertesten und freundlichsten Männer heraus, den man sich vorstellen kann. Als Gelehrter verneigte er sich nur vor Li Kao. Ho Wen hatte den zweiten Platz in Prüfungen errungen, und ich hätte in die Hanlin-Akademie eintreten müssen, um zwei solche Köpfe unter einem Dach zu finden. Zwischen den beiden bestand ein faszinierender Gegensatz.
Li Kao warf eine Idee in die Luft, beobachtete, wie sie funkelte, und warf eine zweite hinterher. Dann schickte er viele verwandte Ideen in den Raum, wo sie kreisten und sich drehten, und wenn sie zur Erde zurückkehrten, hatten sie sich säuberlich zu einem Halsband verschlungen, das sich makellos um den Hals des Themas legte. Ho Wen dagegen war ein Gelehrter, der einen Schritt nach dem anderen und niemals einen Fehler machte. Sein Gedächtnis war so unerschöpflich, daß selbst Li Kao es ihm darin nicht gleichtun konnte. Ich fragte ihn einmal nach dem Namen eines fernen Berges und erhielt folgende Antwort.
»Es gibt fünf heilige Berge: Hengshan, Changshan, Huashan, Tai-shan und Sungshan, wobei Taishan rangmäßig an der Spitze steht und Sungshan in der Mitte. Zu den nicht heiligen, aber sehr ehrwürdigen Bergen zählen Wuyi, Wutang, Tienmu, Tienchu, Tienmuh, Niushi, Mei, Shiunherh, Chichu, Chihua, Kungtun, Chunyu, Yentang, Tientai, Lungmen, Kueiku, Chiuyi, Shiherh, Pakung, Huchiu, Wolung, Niuchu, Paotu, Peiyo, Hunagshan, Pichi, Chinsu, Liangfu, Shuanglang, Maku, Tulu, Peiku, Chinsan, Chiaoshan und Chung-nan. Da der Berg, von dem du sprichst, nicht darunter ist...«
»Ho«, stöhnte ich.
»... ist es vielleicht keine zu überstürzte Schlußfolgerung anzunehmen, daß es Kuanfu ist, obwohl ich nicht gern in Gegenwart der Ahne zitiert werden möchte, denn der kleinste Irrtum kann Enthauptung zur Folge haben.«
Li Kao machte sich sofort das Potential von Hos Gedächtnis zunutze. Er bat ihn, wenn wir allein waren, auf unsere Titel zu verzichten und uns Li Kao und Nummer Zehn der Ochse zu nennen, und lenkte bei der ersten Gelegenheit das Gespräch auf Ginseng. Hos Augen leuchteten, aber ehe er einen Diskurs beginnen konnte, der möglicherweise mehrere Wochen gedauert hätte, fragte ihn Li Kao, ob er jemals von einer Großen Wurzel der Macht gehört habe. Selbst Ho Wen mußte darüber nachdenken und sagte dann langsam und zögernd:
»Als Vierjähriger habe ich einen Vetter in der Segen-des-Himmels-Bibliothek in Loyang besucht.« Er schwieg und dachte darüber nach. »Im dritten Keller, fünfte Reihe links, zweites Fach von oben. Hinter Chou-pis Mathematik fand ich Chang Chis Typhus und andere Kleinigkeiten. Dahinter entdeckte ich in zweiundfünfzig Rollen die sechzehn Bände von Li Shi-chen: Abriß der Kräutermedizin und dahinter stieß ich auf ein Mäusenest. Damals jagte ich hinter der Maus her. Im Nest lag ein Stück Pergament mit einem hübschen Bild und der Unterschrift: Große Wurzel der Macht«, aber das Pergament war so angeknabbert, daß ich nicht entziffern konnte, zu welcher Art diese Wurzel gehörte.«
Er kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen, während er versuchte, sich an die Abbildung zu erinnern.
»Es war eine merkwürdige Wurzel«, sagte er. »Sie hatte zwei winzige Fasern, die Beine der Macht, zwei weitere waren die Arme der Macht, und eine fünfte war der Kopf der Macht. Die eigentliche Wurzel war das Herz der Macht, und es trug die Bezeichnung das Höchste«. Leider hatten die Mäuse alles andere gefressen, und deshalb weiß ich nicht, worauf sich »das Höchste« bezog. Ich bezweifle sehr, daß es sich bei der Wurzel um Ginseng handelte, denn ich habe noch nie von Ginseng gehört, der dieser Wurzel ähnlich wäre.« Ho Wens Interesse an Ginseng hatte einen besonderen Grund. Als eines Tages auf dem Begräbnisplatz der Familie ein Grab ausgehoben wurde, kamen Fragmente von Tontafeln zum Vorschein. Ho Wen erkannte sofort Schriftzeichen von unglaublichem Alter. Er brachte die Arbeiter dazu, jedes vorhandene Tonstückchen aufzusammeln, und machte sich dann an eine unmögliche Aufgabe. Die Zeichen auf den Täfelchen waren beinahe unleserlich,
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