Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
gleichmäßigen Atemzügen. Dann jubelten die Eltern vor Freude, als ein Kind nach dem anderen sich aufsetzte und die Augen öffnete. Die Kinder begannen zu lachen und zu kichern, dann zogen alle Jungen die Schultern hoch, ließen sie fallen und griffen immer wieder schnell in die Luft, als wollten sie etwas packen. Die Mädchen schienen mit weit ausholenden gleitenden Bewegungen etwas durch die Luft zu ziehen, und mir wurde plötzlich klar, daß ich ein Ritual beobachtete, an dem ich selbst mindestens hundertmal teilgenommen hatte.
Li Kao eilte auf Porzellankopf zu und bewegte die Hand vor ihrem Gesicht hin und her. Ihre weitgeöffneten, glänzenden Augen reagierten nicht. Er knurrte, riß eine Kerze aus einem Halter und zündete sie an. Doch selbst als er Porzellankopf die Kerze so dicht vor das Gesicht hielt, daß sie beinahe die Nase berührte, verengten sich ihre Pupillen nicht. Der Abt packte einen Jungen namens Affe und schüttelte ihn heftig. Doch der Junge reagierte nicht. Die Kinder von Ku-fu lachten und kicherten; sie hoben und senkten die Schultern, griffen ins Leere und schienen etwas durch die Luft zu ziehen, ohne ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen. Sie waren erwacht, befanden sich jedoch in einer anderen Welt.
Porzellankopf hörte plötzlich mit den ziehenden, kreisenden Bewegungen auf und saß glücklich lächelnd ruhig in ihrem Bett. Mädchen um Mädchen, und auch ein paar Jungen folgten ihrem Beispiel. Schließlich bewegte sich Fangs Reh noch als einziges Mädchen, und die Jungen verdoppelten ihre Anstrengungen. Aber schließlich saß auch Fangs Reh still im Bett. Die Kinder stießen einen gedämpften Laut aus. Es klang fast wie ein Hochruf, und dann schlössen alle außer Fangs Reh und Kleiner Hong fest die Augen. Kleiner Hongs Lippen bewegten sich langsam und rhythmisch, die anderen begannen zu kichern und tasteten mit geschlossenen Augen in die Luft. Nur Fangs Reh blieb regungslos und still sitzen. Wie ich gesagt habe, kannte ich das Ritual, doch nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Die Kinder hörten auf, in die Luft zu greifen und wandten die Köpfe ruckartig nach Osten. Sie waren still und aufmerksam, und ich ahnte, daß sie einem Ton lauschten, den nur sie hören konnten. Porzellankopf öffnete den Mund. Als ihre dünne, leise Stimme das Schweigen im Kloster durchbrach, richteten alle Anwesenden - auch Meister Li - eine Autorität auf dem Gebiet der Volksbräuche in allen Teilen Chinas - den Blick auf die Fenster, und wir starrten mit großen Augen hinaus zu den dunklen, fernen Umrissen des Drachenkissens. »Jade... Pracht...« flüsterte Porzellankopf. »Sechs... acht...«, flüsterte Kleiner Hong. »Feuer, das heiß brennt...« flüsterte Affe.
»Nacht, die man nicht Nacht nennt...« flüsterte Wang Nummer Drei.
»Nacht, die man nicht Nacht nennt«, riefen alle Jungen gleichzeitig.
»Silber«, rief Porzellankopf. »Gold«, rief Klein Hong.
»Doch wer es kennt, Sieht ein anderes Element«, riefen alle Mädchen gleichzeitig.
Kleiner Hong wandte sich ab und bewegte die Lippen wieder rhythmisch. Im Raum wurde es sehr lebhaft, als die anderen von neuem zu tasten begannen. Nur Fangs Reh blieb still sitzen. Das Kichern und Lachen wurde lauter, und sie sangen glücklich immer wieder im Chor: »Jade-Pracht, Sechs, acht, Feuer, das heiß brennt. Nacht, die man nicht Nacht nennt. Feuer, das kalt brennt. Silber, Gold. Doch wer es kennt, Sieht ein anderes Element.«
Affe hob den rechten Arm und schwang ihn vorwärts und rückwärts durch die Luft. Mit einem Finger berührte er Fangs Reh an der Stirn, und sofort hörten die Lippen von Kleiner Hong auf, sich zu bewegen. Die anderen öffneten die Augen und jubelten. Fangs Reh lächelte strahlend und glücklich. Sie gähnte schläfrig, sie schloß die Augen. Reh sank auf das Bett zurück, und Kind um Kind folgte ihrem Beispiel. Wieder erfüllte das Schluchzen der Eltern das Kloster von Ku-fu, als die Kinder von neuem totenstill in ihren Betten lagen. Die Beine der Macht hatten es beinahe geschafft. Doch die beiden winzigen Würzelchen vermochten die Kinder nicht in Sicherheit zu tragen. Der Abt nahm Meister Li und mich am Arm, führte uns in sein Studierzimmer und schloß die Tür energisch vor dem Wehklagen. Wieder lagen Kummerfalten auf seinem Gesicht. Seine Hände zitterten. Er holte tief Luft und wandte sich an Meister Li. »Werdet Ihr weitermachen?« fragte er ruhig.
»Nun ja, wie es aussieht, habe ich im Augenblick nichts anderes zu
Weitere Kostenlose Bücher